Nationalismus in Zeiten der Globalisierung

In diesem sehr gegensätzlich scheinenden Wortpaar stecken zwei zunächst erklärungsbedürftige Begriffe: Nationalismus und Globalisierung.

Unabhängig, und vielleicht dennoch im Einklang mit gängigen Definitionen will ich hier und im folgenden Nationalismus wie folgt verstehen: Es ist der Glaube, an die Überlegenheit der eigenen Nation über alle anderen Nationen und des eigenen Volkes verbunden mit der Forderung nach einer uneingeschränkten souveränen Handlungsfreiheit der eigenen Nation. In der Theorie ebenfalls oft zu findende Verweise auf einen offensiv-aggressiven Anspruch auf Ausdehnung des eigenen Volkes / der eigenen Nation zu Lasten anderer Nationen möchte ich hier bewusst nicht weiterverfolgen. Ich denke, mein wesentlicher Punkt wird auch mit der kürzeren Begriffsbestimmung deutlich werden.

„Globalisierung“ ist heutzutage eines jener „Buzzwords“, ohne die keine gehobene Debatte über den Zustand der Welt mehr auskommt. Oft wird sie als „Megatrend“ bezeichnet, und dies, obwohl es gar nicht so einfach ist, kurz und knapp darzulegen, was man unter Globalisierung genauer verstehen sollte. Ich möchte folgende Punkte zur Globalisierung in den Fokus dieses kurzen Textes rücken:

Globalisierung ist das Resultat technologischen Fortschrittes vor allem in der Daten- und Informationsübertragung sowie im Güter- und Personentransport. Einige Beispiele machen dies vielleicht deutlich: Die Nachricht vom Sieg der Griechen über die Perser bei Marathon im Jahre 492 v. Chr. Benötigte vermutlich 4,5 bis 5 Stunden und einen an Erschöpfung sterbenden Läufer um die gut 42km bis Athen zu überwinden. Die Nachricht von der Entdeckung der „Neuen Welt“, die seinerzeit gar nicht als solche erkannt wurde, benötigte gut 1,5 Monate für ihre Ankunft. So lange dauerte die Rückreise von Kolumbus‘ Schiffen nach Lissabon. Heute werden bedeutende Sportereignisse, Popkonzerte oder Politgipfel global live übertragen und allenfalls der Zeitverzug des Signalflusses bei Satellitenübertragungen von mehreren Millisekunden wird als störend empfunden. Eine Urlaubsreise selbst an das andere Ende der Welt, Neuseeland, erfordert eine Reisezeit von Tür zu Tür von gut 26-28 Stunden; Abel Tasman oder James Cook waren hierfür noch Monate unterwegs.

Zudem sind Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der Daten- und Nachrichtenübertragung bzw. des Güter- und Personenverkehrs deutlich angestiegen und deren Kosten gesunken. Die Expeditionen von Kolumbus, Magellan oder Cook waren hochspekulative wirtschaftliche Risikounternehmungen; die Reise in die USA oder ans andere Ende der Welt sind zwar auch heute selbst in den Industrieländern nicht selbstverständlich, aber doch einer erheblich größeren Anzahl von Menschen möglich, wie die gut gefüllten Ferien- und Businessflieger tagtäglich beweisen. Und während die erste Datenfunkübertragung über den Atlantik zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines geniales Ingenieurs wie Guglielmo Marconi bedurfte, der mit großem Aufwand und Energieeinsatz ein paar popelige Funkzeichen an die Küste Neufundlands funkte, kann heute jeder Otto Normalverbraucher binnen Bruchteilen einer Sekunde mit einer Email Potenzpillen in den USA oder das neueste High-Tech-Spielzeug in Shanghai online bestellen, um die Ware meist nur wenige Tage später physisch vor seiner Wohnungstür zu finden.

Globalisierung wird oft auch mit zunehmender und global verteilter Arbeitsteilung beschrieben. China ist die „Werkbank der Welt“, die Schweiz die „Bank der Welt“, London und New York sind die großen Handelsplätze der Welt etc. In der Tat gab es weitreichende und nahezu weltumspannende Handelswege bereits vor dem Einsetzen dessen, was wir Globalisierung nennen. Aber auch hier gilt: Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit haben zu-, Kosten haben abgenommen. Dadurch wurde das, was Wirtschaftswissenschaftler den „komparativen Kostenvorteil“ nennen, größer. Der Anreiz zur Spezialisierung und zum Nutzen auch nur geringer Kostenvorteile wuchs, da die Transportdauer sowie –kosten, welche einer Verlagerung von Produktionprozessschritten entgegenstehen, immer geringer ausfielen. So lässt sich erklären, warum in der Nordsee gefischte Krabben zum pulen nach Nordafrika gebracht und zum Verkauf nach Europa zurückgebracht werden. So lässt sich erklären, warum es rein ökonomisch sinnvoll ist (bei Externalisierung der Umweltbelastung und ihrer Kosten), Äpfel aus Neuseeland nach Europa zu transportieren oder warum Kleidung und Schuhe für die ganze Welt aus Bangladesch und Vietnam zu kommen scheinen.

Jene engmaschigere und belastbarere Vernetzung von ökonomischen Beziehungen mittels moderner Nachrichtenübertragungs- und Transporttechnologien wirkt sich auch auf andere Bereiche menschlicher Interaktion aus: Politik, Sport, Kultur, Wissen. Konnte Goethe zu Ende des 18. Jahrhunderts im Faust I noch schreiben: „Wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; dann kehrt man abends froh nach Haus, und segnet Fried und Friedenszeiten.“ Dies gilt heute nicht mehr. Unruhen und Kriege auch „weit hinten in der Türkei“ haben ihre Auswirkungen spätestens mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch hier auf unser Leben; sei es durch die nur schwer erträglichen Bilder eines im Mittelmeer ertrunkenen syrischen Flüchtlingskindes wie Alan Kurdi oder sei es durch die Ankunft jener Menschen, die das Glück hatten, jenem Krieg lebend entronnen zu sein. Aber auch weit weniger schreckliche Ereignisse in weiter Entfernung haben ihre Auswirkungen auf uns und unseren Alltag: Die Festsetzung eines britischen Öltankers im Persischen Golf durch iranische Revolutionsgarden lässt binnen Stunden den Ölpreis in die Höhe schnellen; der Ausbruch eines unaussprechlichen Vulkans auf Island bring den Flugverkehr auf der halben nördlichen Hemisphäre zum Erliegen und beeinträchtigt dadurch nicht nur die Urlaubspläne von Touristen.

Allerdings funktioniert jene globale Interdependenz in Kultur, Sport, Nachrichten, Politik und Ökonomie auch in der Gegenrichtung: Während über die Jahrhunderte der Weltgeschichte die globale Ungleichverteilung von Reichtum und Ressourcenzugang kaum ins Gewicht fiel, da die vergleichsweise Armen und Benachteiligten dieses Planeten keine Möglichkeit hatten, etwas an ihrem Schicksal zu ändern, ja, sich oftmals ihrer (relativen) Armut und Benachteiligung den Reicheren gegenüber gar nicht bewusst waren, kann heutzutage dank eines relativ preiswerten Mobiltelefons und 4G-Netzes auch in Bamako, Caracas, Sanaa oder Kandahar jeder Mensch mitansehen, dass man sich in Europa mit Problemen befasst, wie der Frage, warum Heidi Klum ihren Vater nicht zur Hochzeit eingeladen hat oder ob nun 9€ oder doch eher 12€ Stundenlohn als Mindestmaß angemessen sind. Nein, ich möchte hier nicht in die Sprachfigur der „Luxusprobleme“ abgleiten – der Sinn dieses Einschubes besteht einzig in dem Hinweis, dass jener „Rest der Welt“, der jahrhundertelang auch einen Goethe nicht zu kümmern brauchte, uns heute bei unserem Tun zusehen kann und sich fragt, warum und wieso Reichtum und Ressourcen eigentlich so ungleich verteilt sind, wie sie es sind. Und ob dies so bleiben muss.

Kurzum, die Globalisierung ist auch oder vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die Menschheit in allen ihren Handlungs- und Tätigkeitsfeldern „enger zusammenrückt“ und interdependenter wird. Mehr mit sich selber in Austausch und wechselseitige Beziehungen oder gar Abhängigkeiten eintritt. Zum einen, weil neue Technologien uns dies erlauben, zum anderen, weil wir als Gattung so erfolgreich sind und uns diesen Planeten so komplett zu eigen und Untertan gemacht haben, dass es kaum mehr ein Fleckchen Erde gibt, welches wir nicht mit Beschlag belegt haben.

Und an dieser Stelle nun komme ich auf den oben beschriebenen Nationalismus zurück, als das Bestreben, sich innerhalb dieser globalisierten Welt als größere Gruppe, die sich durch (ethnische) Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation definiert, ein eigenes, souveränes und von Außen unbeeinflusstes Eckchen zu sichern. Dies muss sich angesichts der bislang vorgenommenen Beschreibung von Globalisierung wie ein Antagonismus zu dieser ausnehmen, ein menschlich und emotional vielleicht noch nachvollziehbarer Gegentrend, der aber bei rationaler Betrachtung der Umstände und des Ausmaßes der mittlerweile erreichten Vernetzung der Menschheit zum Scheitern verurteilt ist. Nationalismus wirkt wie der anachronistische Kampf gegen die Windmühlen, die sich im Wind des globalen Wandels eifrig drehen.

Ein letzter Aspekt hierzu: Die Globalisierung setzt trotz ihrer auch negativen Begleiterscheinungen vor allem auf das Prinzip der Kooperation zwischen Menschen. Die beschriebene tiefgreifende und zunehmende Vernetzung von Menschen und ihrer Beziehungen im Handel, in der Kultur, im Sport etc. geht strukturell mit einer tiefergreifenden Kooperation einher. Nationalismus hingegen, wie eingangs definiert, betont den entgegengesetzten Modus menschlicher Interaktion: Die Konkurrenz, den Wettbewerb. Das Prinzip des „Rechts des Stärkeren“. All jenen, die hier nun fälschlicherweise auf Darwin zurückgreifen wollen, sei entgegnet, dass jener vom „Survival of the fittest“ sprach. Und „fit“ ist nicht zwingend mit „stark“ gleichzusetzen. Dies ist vielmehr eine typisch deutsche Fehlinterpretation der Aussagen Darwins. Vielmehr glaube ich, dass in einer global vernetzten, einer globalisierten Welt, der Fittere fürs Überleben derjenige ist, der besser kooperieren kann, der „netzwerkfähiger“ ist, der es vermag, im Einklang mit anderen gemeinsam Probleme anzugehen, der anschlussfähig und aufgeschlossen für Innovationen und sich verändernde Bedingungen ist. Eine Rückkehr zum oben beschriebenen Nationalismus ist in einem globalisierten Zeitalter Verrat am eigenen Volk.

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