Tinder

Oder: Wo Gummiparagraphen an Grenzen stoßen

Gestern wurde also am Bundesverwaltungsgericht Recht gesprochen. Es wurde festgestellt, dass eine Soldatin in herausgehobener Position „…daher Formulierungen vermeiden [muss], die den falschen Eindruck eines wahllosen Sexuallebens und eines erheblichen Mangels an charakterlicher Integrität erwecken. Die Worte „offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome“ erwecken auch aus der Sicht eines verständigen Betrachters Zweifel an der erforderlichen charakterlichen Integrität…“

Die Grundlage für diese Feststellung des Gerichtes ist im §17 des Soldatengesetz niedergelegt. Dort heißt es „(1) Der Soldat hat Disziplin zu wahren und die dienstliche Stellung des Vorgesetzten in seiner Person auch außerhalb des Dienstes zu achten. (2) Sein Verhalten muss dem Ansehen der Bundeswehr sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Dienst als Soldat erfordert. Der Soldat darf innerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen auch während der Freizeit sein Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, dienstliche oder gesundheitliche Gründe erfordern dies. Außer Dienst hat sich der Soldat außerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen so zu verhalten, dass er das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt.“

So weit, also so gut? Ein Gerichtsurteil, dass man zu akzeptieren habe, hinnehmen müsse, wie ich heute früh schon als freundlich kameradschaftlichen Hinweis lesen durfte? Mitnichten. Gerichte legen Gesetztestexte aus – darin haben sie einen gewissen Spielraum, den man sicherlich auch anders hätte auslegen können. Und dann gibt es Fälle, wo möglicherweise das Gesetz selber, welches auszulegen war, problematisch ist. Wäre es nur ich und mein persönliches juristisch laienhaftes Bauchgefühl, das sich an diesem Urteil stören würde – ich würde dies hier nicht schreiben. Da aber gestern viele Menschen und vor allem viele schlauere als ich und durchaus „relevante Multiplikatoren“ für die Bundeswehr, in den Sozialen Medien ihr Unverständnis für dieses Urteil artikuliert haben, möchte ich hier aus meiner Sicht aufdröseln, was mich an diesem Urteil und am Paragraphen 17 des Soldatengesetzes im vorliegenden Fall nachdenklich zurücklässt.

Am Anfang stehen dabei für mich die auslegungsfähigen Begriffe des Soldatengesetzes. Dort ist die Rede von „dienstliche Stellung des Vorgesetzten in seiner Person…zu achten“, „Ansehen der Bundeswehr“ sowie „Achtung und Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordern“. Hier bin ich nur ein juristischer Laie, frage daher ergebnisoffen: Sind diese Begriffe definiert? Wer definiert diese und anhand welcher Kriterien? Besonders problematisch finde ich hierbei, dass diese Formulierungen eine doppelte Interpretationsschleife erfordern, wie man auch an obenstehender Formulierung des Gerichtes sieht: Es kommt nicht einmal auf die Interpretation von „Ansehen“ und „Achtung“ seitens eines Disziplinarvorgesetzten oder Richters an, sondern darauf, was ein „verständiger Betrachter“ darunter versteht. Also muss ein Gericht mutmaßen, was ein hypothetischer Dritter in diese Begriffe hineininterpretiert. Somit macht sich dieses Gesetz von der Auslegung einer vermuteten Interpretation abhängig. Ich finde das problematisch.

Zum einen, ist dieses „auch aus der Sicht eines verständigen Betrachters Zweifel“ weckende auf der Zeitachse wandelbar. Für meine Großmutter war es bereits charakterlich verwerflich und deutete auf einen „losen Lebenswandel“ hin, wenn eine Frau Hosen statt Röcken und Kleidern trug. Und selbst zu Zeiten, da meine Eltern in das Berufsleben einstiegen, war es noch vollkommen tolerabel und gesellschaftlich akzeptiert, wenn ein Ehemann seiner Ehefrau die Berufstätigkeit untersagte – sie hätte dadurch ja ihre ehelichen Pflichten vernachlässigen können. Und bis in die 90er Jahre hinein war es vollkommen in Ordnung gewesen, wenn ein Ehemann die „Erfüllung dieser ehelichen Pflichten“ notfalls auch mit „einem kleinen Klapps“ eingefordert hat, obwohl der Frau nicht danach war.

Worauf ich hinaus will: Die Dinge, die „man halt nicht macht“, die Sitten und Gebräuche und moralische Wertvorstellungen sind einem zeitlichen Wandel unterworfen. Sich von diesem „moving target“ in der Rechtsprechung abhängig zu machen, ist aus meiner Sicht zumindest problematisch. In 20 oder 30 Jahren werden wir uns dann als Bundeswehr möglicherweise genauso bei Anna und ähnlichen Fällen entschuldigen müssen, wie wir es jüngst bei allen homosexuellen Kameraden angesichts deren jahrzehntelanger Diskriminierung getan haben.

Moralische Wertvorstellungen haben noch ein zweites Problem in sich: Sie sind nicht nur auf der Zeitachse wandelbar, sondern glücklicherweise -von einigen Grundsätzen abgesehen- zu jedem x-beliebigen Zeitpunkt innerhalb einer pluralen und diversen Gesellschaft sehr unterschiedlich ausgeprägt. Was in Berlin oder Köln gesellschaftlich völlig akzeptabel ist, könnte in der Rhön oder der Eifel für Befremden und Kopfschütteln sorgen. Schon zwischen der „Hipsterhochburg“ Koblenz und den umliegenden Dörfern und Gemeinden klaffen diesbezüglich himmelweite Unterschiede.

Es stellt sich also die Frage, wessen Moralvorstellungen es sind, die hier die Grundlage, jenen „verständigen Betrachter“ darstellen, nach dessen Maßstäben Zweifel an der charakterlichen Integrität der Betroffenen gerechtfertigt sein sollen. Ist jener verständige Betrachter der 54jährige männliche, weiße, katholische Richter, der verheiratet mit Frau und 5 Kindern lebt und seit Universität und der Studentenverbindung die „Juristenblase“ nie verlassen hat? Ist jener verständige Betrachter ein General der Panzeraufklärungstruppe, der ebenfalls seit 30 und mehr Jahren seine recht homogene Peergroup nur selten verlassen hat? Oder die queerfeministische Aktivistin aus dem Kreisverband Kreuzberg der Grünen? Der Imam der moslemischen Gemeinde Trier?

Und selbst wenn es gelänge, eine Mehrheit der Gesellschaft hinter einer Auffassung von Moral zu versammeln, würde hieraus der verbindliche Anspruch entstehen, dass alle anderen in der Gesellschaft sich daran zu orientieren hätten? Zumal Bundeswehr und die rechtsprechenden Gerichte hier eine aus meiner Sicht zusätzlich problematische Gleichsetzung von „Sexualmoral“ mit „Moral“ vorgenommen haben. „Ein (sexuell) unsittlicher Lebenswandel“ lässt auf eine charakterliche Schwäche und unzuverlässige Persönlichkeit schließen. Eine Gleichsetzung, wie sie mich an das filmische Meisterwerk „Spur der Steine“ erinnert, in welchem die kleinbürgerlich-drömelige Welt des DDR-Parteiapparates in den 60er Jahren thematisiert wird.

Ich denke, hoffe allerdings, dass wir in der bundesdeutschen Gesellschaft des Jahres 2022 freier und liberaler sind, als in der DDR der 60er Jahre. Und wir als Bundeswehr sind Teil und Spiegelbild dieser freien, liberalen und diversen Gesellschaft. Wir sind dazu da, diese Freiheit zu verteidigen. Oder wie es jemand sehr plastisch auf Twitter ausdrückte: „Wir kämpfen auch dafür, dass sich eine transsexuelle prominente Soldatin im Darkroom vögeln lassen darf.“ Ja, drastisch ausgedrückt tun wir auch genau dies.

Ein weiterer, mich irritierender Aspekt am vorliegenden Fall -und dies mag nach der beliebten Argumentationsfigur des „Whataboutism“ klingen- ist die Frage, was am Ende alles geeignet sein könnte, das Ansehen der Bundeswehr zu beschädigen oder Zweifel an der Person eines Vorgesetzten zu wecken und ob wir als Bundeswehr dem immer konsequent und mit gleichem Eifer nachgehen. Zahlreiche Kommentatoren und vor allem Kommentatorinnen haben im Zuge der Debatte um dieses Urteil gestern auf die vielen Tinder-Profile männlicher Soldaten hingewiesen, die zum Teil gar in Uniform noch expliziter auf der Plattform unterwegs seien, als die hier Betroffene. Konsequenzen? Keine. Schädigt der offene Ehebruch mit Kindesfolge eines hochrangigen Generals das Ansehen der Bundeswehr?  Was ist eigentlich für eine Organisation und ihr Ansehen schlimmer – ein Mensch, der seine sexuellen Neigungen offen auslebt, auch wenn diese vielleicht nicht der gesellschaftlichen Mehrheit entsprechen oder ein Mensch, der diese Neigungen zwar hat, aber in ständiger Furcht um eine vermeintliche Ansehensschädigung diese unterdrücken muss oder nur heimlich ausleben kann? Welches dieser Leitbilder ist angemessener für eine Armee, die Spiegelbild einer offenen und pluralen Gesellschaft sein will?

Da ich eben auch das Wort „Furcht“ erwähnte – in den Debatten zum vorliegenden Fall wurde auch etwas von „Sicherheitsrisiko“ und „Erpressbarkeit“ geschrieben. Hierbei wurde allerding ironischerweise komplett der Mechanismus übersehen, wie Erpressungen funktionieren. Erpressbar ist, wer Angst vor negativen Konsequenzen, in der Regel Angst vor dem Bekanntwerden eines bestimmten Sachverhaltes haben muss. Es ist also gerade die Drohung mit der Sanktionierung eines bestimmten Lebensstils durch den Dienstherrn, die eine Erpressung erst ermöglicht. Eine homosexuelle Soldatin, die in einer offenen Beziehung lebt, mit der alle an dieser Beziehung Beteiligten einverstanden sind, ist nicht erpressbar. Ein verheirateter Soldat und Familienvater, der in einem „traditionellen“ Familienmodell lebt, aber seine Vorzimmerdame geschwängert hat und nicht will, dass dies bekannt wird, ist erpressbar. Ein Staat, ein Arbeitgeber, ein Dienstherr, der sich in diesen sehr privaten Bereich der Lebensführung seiner Soldatinnen und Soldaten einmischt, schafft hier zusätzliche Zwänge, Abhängigkeiten, aus denen erst ein Erpressungspotential erwächst.

So, am Ende meiner recht losen Gedanken und Eindrücke zum gestrigen Urteil angekommen, eine kurze Zusammenfassung und ein paar Gedanken, was man als Änderung erwägen sollte:
Die Verknüpfung der Wohlverhaltenspflicht für Soldaten und vor allem Vorgesetzte mit so weichen Faktoren wie Moralvorstellungen ist problematisch, weil sie einer Auslegung und Konkretisierung bedarf. Besonders problematisch wird dies, wenn Moral vor allem als Sexualmoral definiert wird und aus den sexuellen Vorlieben von Soldatinnen und Soldaten auf deren Persönlichkeit zurückgeschlossen wird. Dies mutet mittelalterlich an. Entsteht zudem der Eindruck, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird -verheimlichte aber hinreichend bekannte Verfehlungen männlicher Vorgesetzter werden toleriert und in Teilen sogar gedeckt, offen ausgelebte weibliche Sexualität abseits der (mutmaßlichen) Mehrheitsnorm wird sanktioniert- kann dies in der Gesellschaft, deren Teil die Bundeswehr doch sein will, für Befremden sorgen.

Aus meiner Sicht wäre es Zeit, die einschlägigen Paragraphen im Soldatengesetz anzupassen bzw. zu konkretisieren. Dabei wäre das „Wohlverhalten“ aus meiner Sicht deutlich enger auf dienstliche Aspekte und Belange auszurichten. Wenn wir als Streitkräfte die Staatsbürger*innen in Uniform als Ideal anstreben und dies aktiv unterstützen wollen, dann muss es auch möglich sein, private Lebensbereiche zuzulassen, die keinen dienstlichen Bezug haben, die keine Rückschlüsse für Beurteilungen oder mögliche Disziplinarverfahren erlauben. Dann benötigen wir Bereiche, die es unseren Soldatinnen und Soldaten erlauben, einfach Mensch zu sein. Mit allen Facetten, die dies mit sich bringt. Das Ideal des „Du gehörst 24/7“ in allen, aber auch wirklich allen Belangen dem Staat passt da nicht zu.

Vor allem gehört (fast alles), was mit den sexuellen Neigungen von Soldatinnen und Soldaten zu tun hat als zutiefst privater Lebensbereich dem Zugriff, ja überhaupt schon dem Interesse des Dienstherrn entzogen. Ausnahmen würde ich hier sehen, bei Dingen, die in der Kaserne, während des Dienstes stattfinden, dort, wo Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt werden oder sexuelle Handlungen nicht einvernehmlich geschehen.

Ein Blick auf die aktuelle Situation der Ukraine und deren Abwehrkampf gegen eine russische Invasion zeigt dabei übrigens, dass dies kein verkopftes „Schönwetterproblem“ einer „woken Elite“ ist. Wenn wir als Bundeswehr unserem Kernauftrag einer Landesverteidigung nachkommen wollen, dann müssen wir erstens zu dem Land und der Gesellschaft passen, die wir verteidigen wollen und wir brauchen zweitens im Falle des Falles deren vollen Rückhalt, ihre Unterstützung. Und wir brauchen das Personal. Nur mit den „Spartanern“ voller „Manneszucht“ und Kriegeridealen werden wir in einer immer komplexer werdenden Welt weder in Quantität noch in Qualität das Personal bekommen, welches wir zur Erfüllung dieses Kernauftrages benötigen. Wir brauchen im Zweifelsfall alle (m/w/d). Ein Urteil wie das gestern gefällte, mag es juristisch vollkommen korrekt gewesen sein, ist vor diesem Hintergrund kein Erfolg für uns als Bundeswehr.

3 Kommentare zu „Tinder

  1. Danke für diese ausgewogenen Betrachtungen. Insbesondere die zur Frage der Erpressbarkeit. Genau da liegt nämlich der Hund im Verteidigungsbereich begraben. Und zwar ein viel grösserer und für die Sicherheit des Landes gefährlicherer als bei einer vollständig geouteten Transperson. — Den damaligen Generalstabsmajor Biefang habe ich 2010 während einem sieben Wochen dauernden Lehrgang an der SanAK näher kennenlernen dürfen. Und ich habe ihn (damals wurde sie noch als Mann gelesen) als überaus integer erlebt, auch in herausfordernden Situationen, die es – man glaubt es kaum – bei diesem Lehrgang auch gab und die ohne das bei ihm nötige Augenmass eskaliert wären. Biefang wäre einer der wenigen gewesen, die ich aus dieser Lehrgangsgruppe für einen Kriegseinsatz unter meinem Kommando ausgewählt hätte. Gezeichnet, ein Veteran Dt. HKtgt KFOR und OTL a D der Schweizer Armee.

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