Gedanken zum 8. Mai

Zugegeben – ich habe lange nichts mehr an dieser Stelle geschrieben. Dazu später vielleicht mehr, nur soviel: Eine Mischung aus anderen Prioritäten, einem sich selbst im Weg stehenden Hang zum Perfektionismus („the better is the enemy of the good“) sowie das schnellere und bessere Abräumen der einen oder anderen Textidee von mir durch berufenere Schreiber trugen zu dieser Funkstille bei. Doch dazu gegebenenfalls an anderer Stelle mehr. Hier und jetzt soll es um den 8. Mai und die Debatten zum Charakter dieses Tages gehen.

Vielleicht fällt es in die Kategorie dessen, was Immanuel Kant „List der Vernunft“ genannt hat, wenn ein Mensch mit schrecklicher Gesinnung aus verabscheuungswürdigen Motiven heraus etwas Scheußliches sagt, dass selbst daraus Erkenntnisgewinn entstehen kann, weil es zu einer (neuerlichen) Auseinandersetzung mit dem Thema taugt. Konkret geht es um die Einordnung des 8. Mai durch Herrn Gauland als „Tag der Niederlage“.

Mutmaßlich hat jener Freund der Hundekrawatte mit dieser Aussage lediglich sein rechtsextremistisches Klientel mit einem weiteren Tabubruch und Verstoß gegen die Diskursdogmen des „linksgrünversifften Meinungsmainstreams“ bedienen wollen. Auch wenn er hinterher sicherlich mit der AfD-eigenen Rabulistik argumentieren wird, er sei missverstanden worden, fehlinterpretiert, man wolle ihn ungerechtfertigterweise in die Nähe von Rechtsradikalen rücken usw. usf… Auch ein Zurückziehen auf die engbegrenzteste Bedeutungsebene, dass ja am 8. Mai tatsächlich die militärische Niederlage im 2. Weltkrieg besiegelt wurde, und das eben nur dieser Umstand gemeint sei, wird vmtl. von Herrn Gauland und seinen Apologeten zu hören sein. Und ja, ganz sicher wird der Verweis auf die verlorenen Ostgebiete Deutschlands, die verlorene „Heimat“ sowie das Leid, dass vor allem die deutsche und deutschstämmige Bevölkerung in jenen Ostgebieten gegen Kriegsende und danach erleiden musste, als Argument ins Feld geführt werden, warum jener Satz vom „Tag der Niederlage“ in dieser Form gerechtfertigt sei.

Nun, ein Vorgesetzter von mir sagte einst: „Vieles, von dem was Sie sagen, ist richtig. Aber das Ganze ist im Kern falsch!“. Damit ist eigentlich bereits alles gesagt. Wenn man das Ganze vor seinen Teilen betrachtet, dann können viele richtige Teile, falsch zusammengesetzt, etwas Falsches ergeben. Die Falschheit jener eben aufgeführten denkbaren Gauland’schen Begründungen für seinen Satz erschließt sich somit bei Betrachtung des Gesamtzusammenhanges. Und in jenem großen Bild ist es Deutschland, welches den 2. Weltkrieg vom Zaun brach, ist es das Deutsche Volk, welches Hitler und seinen Schergen in großen Teilen willfährig hinterherlief, sie zumindest nicht aktiv bekämpfte und welches Konzentrationslager und Holocaust zu verantworten hat. Dies relativiert nicht, was Deutsche im Nachgang zu erleiden hatten, stellt aber den zur Einordnung notwendigen Gesamtkontext dar. Die „Niederlage“, die Gauland artikuliert, ist die auch für das deutsche Volk katastrophenhafte Beendigung eines Krieges, den in diesem Ausmaß, in der Art seiner Kriegsführung und mit all seinen verachtenswerten Rechtsbrüchen insbesondere Deutschland zu verantworten hat. Ohne den 1. September 1939, ohne Kommissarbefehl, ohne Coventry etc. hätte es den 2. Weltkrieg nicht bzw. nicht in dieser Form gegeben. Und in jenem weiter gefassten Rahmen ist es Herr Gauland, der regelmäßig jenes Kapitel der deutschen Geschichte einseitig verharmlosend, relativierend und die genannten durch Deutsche begangenen Verbrechen ausblendend darstellt.

Interessanterweise, und hierin mag ein Teil jener „List der Vernunft“ liegen, lenkt Herr Gauland mit seiner bewussten Ablehnung des Wortes „Befreiung“ und dessen Ersetzung durch „Niederlage“ die Aufmerksamkeit auf die genauere Auseinandersetzung mit diesen Worten. Und diese Auseinandersetzung erscheint meiner Meinung nach recht interessant.

Zum einen ist da die in der Grammatik nur widergespiegelte Passivität des Vorganges, wenn man sagt, „das Deutsche Volk sei am 8. Mai befreit worden.“ In der Tat: Das Deutsche Volk hat es nicht vermocht, sich zuvor selber zu befreien. Kein Georg Elser, keine „rote Kapelle“, keine Geschwister Scholl und auch kein Stauffenberg reichen als „Feigenblatt“ aus, die moralische Blöße, welche wir uns als Volk damals gegeben haben, zu bedecken.

In der keinesfalls repräsentativen Geschichte meiner eigenen Familie finden sich angepasste Duckmäuser, die zwar mit einem innerem Grummeln, gleichwohl das Regime ertragen bzw. erduldet haben. Es gab auch jene, die angepasst und mit klammheimlicher innerer Freude, dass endlich mal mit den „linken Unruhestiftern“ und dem „gierigen Finanzjudentum“ aufgeräumt wird, mitliefen, die aber vor einer aktiven Mittäterschaft zurückschreckten. Es gab auch bis zu ihrem Tode überzeugte Nazis in meiner Familie. Was es nicht gab, waren Menschen, die sich dem Regime aktiv widersetzt haben, es zu bekämpfen oder gar abzuschaffen versucht haben.

Ich werte dies nicht. Ich befand mich nicht in der gleichen Situation wie jene Menschen. Rückwirkend meine Jugendjahre in einem anderen Unrechtsstaat betrachtend, würde ich vermuten, dass ich bei Fortbestand der DDR wahrscheinlich in die Kategorie „innerlich widerstrebender und moralisch entkernter Mitläufer“ gefallen wäre und dass ich unter den Bedingungen des NS-Regimes ebenfalls moralisch versagt hätte. Dies ist allerdings ein spekulativer Exkurs, der nichts an der Tatsache ändert, dass es im Deutschland der Jahre 33-45 eben viel zu wenige Elsers, Scholls, Ossietzkies, Niemöllers etc. gab und viel zu viele, die als Blockwart, Zugfahrplaner, Aufseher, Soldat, Arzt, Richter, Polizist, „Volksschauspieler“, oder, oder, oder einfach nur meinten, ihre Pflicht zu erfüllen und auf diese Weise dazu beigetragen haben, den Karren dermaßen tief in den moralischen Dreck zu fahren.

Fakt ist: Diesem, unserem deutschen Volke ist es nicht gelungen, sich von diesem Verbrecherregime ohne fremde Hilfe zu befreien. Die buchstäbliche Befreiung vom Naziregime musste von Außerhalb erfolgen. Und auch die Tatsache, dass in einem Teil Deutschlands unmittelbar auf das Unrechtsregime der Nazis jenes der Stalinisten folgte, ändert nichts daran, dass in der Sequenz der Ereignisse zunächst die „Befreiung von“ erfolgte, bevor anschließend eine neue Diktatur Fuß fasste . Und ja, ich gebe zu, dass dies semantisch spitzfindig erscheinen mag.

Verständlich ist allerdings, dass diese Bedeutungsebene des Wortes „Befreiung“ für Gauland und Co. ein Problem darstellen muss. Dass eine Selbstbefreiung der Deutschen vom Naziregime schlicht nicht möglich war, liegt ja nicht daran, dass jenes Regime dermaßen genial und übermächtig das eigene Volk im Zaum gehalten hat oder brutal zum Gehorsam zwingen musste. Noch im Februar und März 1945 haben an allen Fronten zahlreiche Hitlerjungen und Volkssturmangehörige auf deutscher Seite mit leuchtenden Augen und tiefen Glauben an den Führer ihr Leben für Volk und Vaterland hingegeben. Die Soldatenfriedhöfe rund um Berlin, aber auch bei Hamminkeln oder in der Eifel sind voll von ihnen. Noch im März 1945 haben Marinekriegsrichter Todesurteile über Deserteure und subversive Elemente verhängt, die von willigen Helfern vollstreckt wurden. Noch im März 1945 wurden durch Deutsche in Lagern wie Buchenwald oder Bergen-Belsen massenweise Menschen „vernichtet“; allein für den März 1945 stößt man in Bergen-Belsen die unglaubliche Zahl von 18.168 Toten. Die unbequeme Frage nach der „kollektiven Mitverantwortung“ eines ganzen Volkes sowie jene nach der persönlichen Verantwortung oder Schuld jedes Einzelnen schwingt in diesem Wort „Befreiung“ inhärent mit. Für jene Mitläufer und Mittäter war es in der Tat eine Niederlage. Für jene in innerer oder gar offener Opposition zum Regime war es tatsächlich die Befreiung.

Problematisch an jenem Wort „Befreiung“ ist allerdings ein Unterton, den es vor allem in der DDR mit auf den Weg bekommen hat. Der DDR-Schriftsteller Matthias Biskupek prägte einen sehr treffenden Satz: „Die DDR gehört neben Österreich zu den einzigen Ländern, dies es erfolgreich vermocht haben, der Weltgeschichte vorzumachen, dass sie von den Nazis überrannt worden seien.“  In der Tat: Jemand der „befreit“ werden muss, befindet sich definitorisch widerwillig in einer Zwangssituation, meist einer Gefangenschaft, aus der er sich objektiv nicht selbständig lösen kann. Man war / ist also Opfer. Und jenes Opfernarrativ vermochte die DDR erfolgreich auf ihre eigene Geschichte und ihre Wurzeln in den Jahren 1933-45 anzuwenden. Die DDR war ein Land voll von Widerstandskämpfern. Dies widerspricht zwar jeglicher Statistik und Empirie hinsichtlich der an den Tag gelegten Verhaltensweisen in der Nazizeit, taugte aber lange genug für die Selbstlegitimation eines Unrechtsregimes. Auch deshalb wurde an der „Schule der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft Juri Gagarin“, die ich damals besuchte, der 8. Mai als „Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“ als besonderer Tag begangen. Wir und unsere „geliebte Heimat“ DDR hatten mit „den Nazis“ nicht zu tun.

Spannend, dass man im tatsächlich freien (oder zumindest freieren) Westen sich mit dieser entlastenden (Um)Deutung des Begriffes „Befreiung“ lange Zeit erheblich schwerer getan hat und es 40 Jahre brauchte, bis Richard von Weizsäcker in seiner mutigen und beachtlichen Rede diesem Begriff die Legitimation des höchsten Staatsamtes verliehen hat, ohne sich dabei in den Fallstricken jenes kollektiven Opfernarrativs als eines von den Nazis zum Krieg verführten Volkes zu veheddern.

Weitere Legitimation erhält das Wort „Befreiung“ für mich jedoch in der langfristigen Betrachtung: Mit dem Abstand von nunmehr 75 Jahren leben wir in einem freien, liberalen, demokratischen Deutschland. Einem Land, welchem ich geschworen habe, treu zu dienen und dessen Recht und Freiheit ich tapfer zu verteidigen bereit bin. Wir leben in einem Land, in dem knapp einem Viertel der Bevölkerung nach weiteren tragischen 40 Jahren in einem Unrechtsregime im Herbst 1989 jene Selbstbefreiung gelang, die in den Jahren 1933-45 versagt blieb. Wir leben in einem Land, wo Grund- und Bürgerrechte sehr hohe und von (fast) allen Teilen der Bevölkerung anerkannte Werte sind. Wo tagtäglich offen, mitunter auch hart, um die Ausbalancierung gesellschaftlicher Interessen und Prioritäten in demokratischen Verfahren gerungen wird. Dies macht stolz.

Und ja, der folgende Gedanke ist spekulative Gesichtsbetrachtung und daher fraglich – gleichwohl –  die Frage kommt natürlich in den Sinn, ob diese Entwicklung hin zu dem Staat, in dem wir heute leben, ohne jene totale Niederlage, die zwar auch eine militärische Niederlage war, in der sich aber auch die vorangegangene totale moralische Niederlage weiter Teile des Deutschen Volkes offenbarte, ob diese positive Entwicklung ohne jene Voraussetzung möglich gewesen wäre. Mit Blick auf den ideologischen Hintergrund so mancher später verklärter Widerstandsidole darf man hier Zweifel anmelden.

„Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ – so die Eingangszeilen der DDR-Hymne, welche ab 1972, also bereits bevor ich geboren wurde, nicht mehr zu singen war. Formulierungen wie „einig Vaterland“ waren nicht mehr opportun. Ich bin jedenfalls fest davon überzeugt, dass das, was aus den Ruinen und Trümmern des 2. Weltkrieges entstand, etwas ist, über das man sich freuen und auf das man ein Stück weit stolz sein kann. Der 8. Mai markiert somit das Ende einer Diktatur und zugleich einen Neubeginn. Gewiss ist er auch ein Tag der (selbstverschuldeten) Niederlage, welche jedoch das Prädikat „befreiende Niederlage“ verdient. Und eine „befreiende Niederlage“ aus der positives Neues erwächst, ist mir allemal lieber als ein „Sieg heil“.

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