Da seit gestern sehr viele Menschen getriggert durch den Satz „Stress ist nur für Leistungsschwache“ unter dem Hashtag #leistungsschwach ihre jeweiligen individuellen Erfahrungen mit Überforderungen und dem Umgang damit posten, glaube ich, dass es auch für mich an der Zeit ist, eine Geschichte zu erzählen, die mich seit Jahren umtreibt. Diese Geschichte hat auch mit Leistungsschwäche zu tun und sehr viel mit individuellem Versagen im Umgang mit Überforderungen. Es ist auch die Geschichte erheblicher Umbrüche im Leben eines Menschen und vielleicht am wichtigsten: Es ist ein meine Geschichte.
Ich habe sehr lange schon darauf herumgedacht, ob und wie ich dies alles erzählen kann und soll. Etliche Male angefangen, es aufzuschreiben und es ebenso oft wieder verworfen. Inzwischen denke ich, dass es das Beste ist, das Ganze einfach so offen und direkt niederzuschreiben, wie es mir durch den Kopf geht. Keine Verklausulierungen, keine Ausschmückungen. Allenfalls wird es hier und dort Auslassungen und Leerstellen geben, wo diese Geschichte aufhört, meine Geschichte zu sein, sondern zur Geschichte anderer Menschen wird. Hier kann und werde ich Grenzen einziehen, denn es steht mir nicht zu, eine andere Geschichte zu erzählen als meine eigene.
Ich möchte dies aber vor allem als individuelle Geschichte verstanden wissen. Auch wenn es sicher Aspekte daran gibt, die andere Menschen nachvollziehen können und eventuell so oder so ähnlich auch selber erlebt haben – ich kann nicht von mir und dem, was ich erlebt habe, auf das Große und Ganze hochrechnen. Sofern also im Folgenden Dinge geschildert werden, die die Frage aufwerfen, ob dort jemand „Verantwortung“ für das hat, was geschehen ist oder gar „Schuld“, so richtet sich diese Frage ausschließlich und ganz an mich persönlich.
Noch ein letzter Hinweis – das Folgende wird nicht immer leichte Kost, denn ich werde offen und ehrlich sein. Menschen, die diese Geschichte bereits kennen, waren in der Regel hinterher geschockt, entsetzt. Das tut mir leid und ist nicht meine Absicht zu schockieren. Ich werde es dennoch ungeschminkt erzählen, weil ich denke, dass es da draußen Menschen gibt, denen das, was ich erlebt habe, vielleicht einen Anstoß gibt, etwas besser zu machen als ich – sich Hilfe zu suchen, wenn es geboten ist. Und so wie es mir seinerzeit geholfen hat zu erfahren, dass ich mit dem, was mir passiert ist, nicht allein bin, so hoffe ich, dass es anderen Menschen ähnlich gehen wird.
Wie viele andere Geschichten auch, hat auch diese eine Vorgeschichte. Diese ist relativ schnell erzählt. Es ist der Weg eines Wehrpflichtigen Mitte der 90er Jahre, der Schritt für Schritt in eine Laufbahn als Zeit- und später Berufssoldat hineinrutscht aus vielerlei Gründen: Die Kameradschaft, das stets gute Mikroklima im Dienst, das gute Gefühl, wenn man bereits in jungen Jahren Verantwortung übertragen bekommt, das sich selbst fordern und entwickeln können. Die Freiheit im Studium, ohne jeden finanziellen Zwang, einfach akademisch die Welt entdecken und erdenken dürfen. All dies war und ist toll.
Mit Mitte / Ende Zwanzig erfolgte dann ein Bruch. Eine Beziehung ging in die Brüche. Die Gründe dafür sind vielschichtig und haben mehr mit den handelnden Personen und ihren jeweiligen Lebensentwürfen und Persönlichkeiten zu tun als mit den beruflichen Rahmenbedingungen. Oder schlicht: Es hat einfach nicht gepasst. So gern ich hier die Ausrede „es lang am Beruf und an dessen Rahmenbedingungen“ nutzen würde – es wäre gelogen. Aber diese private Katastrophe sollte sich folgend auf den Beruf auswirken.
Unfähig, dieses Beziehungsende zu verstehen, emotional zu akzeptieren und zu verarbeiten, wurde die Arbeit mein Fluchtort. Hier musste ich nicht mit „ihren Freunden“ über die Dinge diskutieren, die ich mutmaßlich alle falsch gemacht hatte. Ich igelte mich in meine Arbeit und mich ein. Mich verstand eh niemand, schlimmer noch, ich glaubte, dass mich niemand verstehen wollte. Die Ablenkung, den Trost, die Anerkennung, die im Privatleben immer öfter ausblieben – hier auf Arbeit bekam ich sie. Wenn ich tagtäglich für meinen Zug oder für meine Kompanie da war, dann kam dies gut an. Wenn ich freiwillig Wochenenddienst als OvWa übernahm, dann brachte dies Bonuspunkte. Und wenn der Chef der Nachbarkompanie beim Essen Dinge raushaute wie „Wenn der Dienstherr gewollt hätte, dass ich eine Frau und Familie hab, dann hätte er mir die bei der Einkleidung mitgegeben.“, dann applaudierte ich innerlich mit grimmigem Lachen. Der Mann hatte es verstanden!
Aber wenn es am Wochenende nach Hause ging oder der Jahresurlaub abgebaut werden musste, dann war dort niemand. Nur Leere. Wenn ich nach Hause kam, warten ein voller Briefkasten, ein leerer Kühlschrank und eine kalte Bude auf mich.
Schlimm waren die Einsätze. Nein, natürlich nicht. Die Einsätze waren toll. Der Zusammenhalt im Zug, in der Kompanie war nochmal um Längen enger, das Gefühl, beruflich das tun zu können, wofür man ausgebildet worden war, befriedigte. Wir als Team und auch ich als Person haben im Einsatz „performt“, denke ich. Immer Vollgas, immer parat. Aber irgendwann endeten auch die Einsätze und es ging nach Hause. Und während meine Soldaten und Soldatinnen von ihren Frauen, Kindern, Freunden, Freundinnen abgeholt wurden, wartete auf mich jedes Mal „nur“ der Spieß mit einem Geschäftszimmersoldaten. Ja, natürlich haben meine Eltern sich gefreut, dass ich wieder da war, aber das war es dann auch schon. Keine großen „welcome back“-Parties. Ein Wochenende bei den Eltern, ein paar Bilder hier und dort gezeigt und nach 2-3 Tagen „Rückkehrerurlaub“ ging es dann auch wieder in den Dienst.
Das wenige, was in dieser Phase meines Lebens noch an eher losen Freundschaften übriggeblieben war, ging in dieser Zeit endgültig über die Wupper. Das Gefühl, nicht verstanden zu werden, nahm zu. War es anfangs das Gefühl, dass niemand versteht, was das Ende einer Beziehung für mich bedeutet, kam jetzt die Entfremdung des Einsatzrückkehrers hinzu. Absolut niemand schien sich für meine Geschichten und Erlebnisse aus den Einsätzen zu interessieren. Ja, klar – ein paar Bilder schauen, ein paar Anekdötchen – das ging. Aber wirklich nachvollziehen, was diese Eindrücke aus Afghanistan für mich bedeuteten, das konnte niemand. Wie sollte dies auch gehen?
Meistens bemerkt man selber immer als einer der Letzten, wenn man sich auf einer schiefen Bahn befindet und rutscht. Ich denke, mir ging es ganz genauso. Wenn ich mich doch aufraffen konnte, mit meinen „Restfreunden“ wegzugehen, so war ich regelmäßig „Tagesvollster“. Und das als erster. Die Abende allein im Offizierheim oder auf Stube mit einem „Seelentröster“ nahmen zu. Der Sport wurde weniger, der Zigarettenkonsum steigerte sich auf gut zwei Schachteln am Tag.
Aber von außen betrachtet war ich dabei immer noch der Zugführer, später der Kompaniechef, der allzeit für seine Frauen und Männer da war, der jede Übung, jedes Schießen, jeden Ausbildungsabschnitt persönlich begleitet und geleitet hat, der bei Wettkämpfen im Bataillon seine Kompanie regelmässig auf Spitzenplätze angetrieben und motiviert hat, der nebenbei hier ein Projekt, da ein Sondervorhaben gewuppt hat. Ein Leistungsträger. Doch hinter dieser Fassade bröckelte es bereits gewaltig.
An dieser Stelle folgen einige kleine Auslassungen bzw. Zusammenfassungen, um diesen Teil, der immer noch Vorgeschichte ist, abzubinden: Versetzungen aus dem liebgewonnenen Arbeitsumfeld und zunehmendes Einigeln in mich selbst blieben in den folgenden 2-3 Jahren nicht ohne Folgen. Neue Verwendungen, in denen man nicht sofort „performt“ und ausbleibende Anerkennung können dann nicht mehr die Leerstelle im Privaten kompensieren. Die schiefe Bahn wurde schiefer, das Rutschen beschleunigte sich. Dinge verloren an Bedeutung, vieles wurde mir schlicht egal; das Einigeln und die Selbstisolation nahmen zu. Es gab vereinzelt Hinweise von Außenstehenden, von Vorgesetzten und Kameraden, die versuchten, mich aus meiner Isolation zu schubsen. Allein, ich war zu blind, taub, zu sehr in mich abgeschottet, diese Angebote zu akzeptieren.
Bis hierhin ist dies alles, fürchte ich, kein Einzelfall. Es ist die Geschichte von jemandem, der mit einem Rückschlag in einem Lebensbereich überfordert ist, solange damit falsch umgeht, bis dies auch auf andere Lebensbereiche durchschlägt. Zudem die fehlende Selbstkompetenz oder Bereitschaft, sich Hilfe zu suchen oder Hilfsangebote von außen zuzulassen.
Als Teil einer ganz anderen Geschichte fand ich Zugang zu einem neuen, anderen Freundeskreis. Menschen, die mich nicht am Tiefstpunkt meines Beziehungsfrustes erlebt hatten. Menschen, die mich als das akzeptieren, was ich war und wie ich war. Einer dieser Menschen war meine Lebensgefährtin.
Vieles, woran ich mich in den Jahren zuvor gewöhnt hatte, lernte ich fortan aus einer neuen, anderen, besseren Perspektive neu zu bewerten. Statt des leeren Kühlschrankes und der kalten Wohnung gab es jetzt freitags jemanden, der auf mich wartete, sich freute, wenn ich nach Hause kam, mit dem ich über meine Woche, meine Erlebnisse, meine Sorgen reden konnte. Und umgekehrt, jemand, der mich jenseits des Dienstes benötigte.
Mit diesem radikalen Umschwung im privaten Bereich, ging es auch beruflich wieder bergauf. Obwohl sich dies aus dem Leistungsbild der letzten zwei, drei Jahre nicht mehr schlüssig herleitete, wie mir ein ehemaliger Vorgesetzter recht offen zu verstehen gab, fand ich mich plötzlich in einem Umfeld voll von „Rennpferden“ und „Leistungsträgern“ wieder. Auf großer Bühne. Es galt für mich „Schritt aufzunehmen“. Der Stress, der in den Jahren zuvor aus der Abwärtsspirale von privaten und beruflichen Rückschlägen resultierte, kehrte in Eustress um.
Zu meiner anfänglichen eigenen Überraschung funktionierte es aber mit dem „Schritt aufnehmen“. Ich funktionierte. Es machte an allen Ecken und Enden Spaß. Eine Verwendung, die zu mir und meinen Fähigkeiten passte wie „Arsch auf Eimer“ und ein endlich rundum erfülltes Privatleben. Da macht es dann auch nix, wenn man als Wochenendpendler unter der Woche regelmässig bis 19 Uhr oder länger im Büro sitzt und die Wochenarbeitszeit regelmässig die 60h ankratzt – ich durfte spannende Dinge miterleben und mitgestalten, quasi der Weltgeschichte beim Werden zuschauen. Das ist schonmal ein paar Überstunden wert.
Auch das Rauchen wurde ich los. Nach einer schwierigen Nacht, in der ich mit Schweißausbrüchen, Herzrasen und etwas Panik aufwachte, fiel der Entschluss, es sein zu lassen mit dem Rauchen. Und es funktionierte. Die Angst vor dem, was passieren könnte, wenn ich ungebremst weiterrauche, war stärker als der Entzug. Da sich das dann auch positiv nicht nur auf den Geschmackssinn, sondern auch auf den Sport auswirkte, den uns unser Chef damals regelmässig zum Ausgleich verordnete, war alles „schick“. So schick sogar, dass ich ernsthaft mit dem Laufen anfing. Ich erstellte Trainingspläne, gab jede Menge Geld für alles Mögliche an Equipment aus und meldete mich bei Volksläufen an. Weiter, immer weiter. Und Vollgas. Es kam der erste Halbmarathon in Köln. Dann in Koblenz. Und dann das große Ziel: Ein Marathon.
2015 war es dann soweit. Ein ganzes Jahr hatte ich mich gezielt drauf vorbereitet. Das Setting in Köln kannte ich ja bereits vom Halbmarathon aus dem Vorjahr. Das Wetter war Anfang Oktober ideal für einen Marathon: 14-15 Grad, ganz leichter Nieselregen, ein eher grauer Tag. Die Stimmung war gigantisch. Party machen können sie im Rheinland! Ich spulte die ersten Kilometer runter, schneller, als ich mir eigentlich vorgenommen hatte, aber der Körper gab es her und ich fühlte mich gut. Klasse. Bis bei Kilometer 27 ein erster Krampf im Oberschenkel einsetzte. Genau an der Stelle, wo ich vor Jahren mal einen Muskelfaserriss hatte. Ich fluchte, heulte, biss die Zähne zusammen. Ich ging mehrfach „rechts raus“ an den Rand, heulte weiter. Dehnte immer wieder Krämpfe aus. Aber aufgeben wollte ich nicht. Wenn ich hier und heute aufgab, würde ich dieses Ziel einen Marathon zu laufen vmtl. nie erreichen. Es musste heute sein oder gar nicht. Wie recht ich damit hatte, konnte ich damals nicht ahnen.
Ich kam an. Beißend, schreiend, humpelnd, fertig. Und klar über der Zeit, die ich eigentlich erreichen wollte. Aber ich kam an. Ich hatte es geschafft. Und nachdem dann das Triumphieren, das Auskurieren und tagelange Humpeln sich gelegt hatten, fiel der Entschluss, es nochmal zu versuchen. Hamburg 2016. Also wurde erneut ein Trainingsplan geschrieben, neue Ausrüstung beschafft. Und gelaufen. Und noch mehr gelaufen. Teilweise 40 bis 50 km in der Woche. Ich fühlte mich großartig dabei, hatte kräftig abgenommen, passte in Hosen, die ich zuletzt als 18jähriger getragen hatte.
Für das Lauftraining grad am Wochenende und im Urlaub hatte ich in Koblenz ganz wunderbare Strecken. An Rhein und Mosel konnte man wunderbar stundenlang die Ufer entlanglaufen. Und mit dem Rittersturz oder im Stadtwald konnte man zugleich Anstiege in das Programm einbauen. Ich erinnere mich an einen Trainingslauf mit 15km Strecke, den Rittersturz hinauf und wieder runter mit durchschnittlich 5:15min pro Kilometer. Herrlich. Das war vielleicht der beste Lauf meines Lebens. Es war der 23.03.2016.
Am Tag darauf, Gründonnerstag stand ich vom Frühstückstisch auf, fiel um und war tot.
Sorry, wenn ich das so abrupt schreibe, aber so war es. Ein Hinterwandinfarkt. Irgendein fisseliges mikrometerdünnes Herzkranzgefäß, welches für die Blutversorgung des Herzmuskels verantwortlich war, hatte sich zugesetzt. Die Wirkung ist vergleichbar mit der großen roten Taste auf der Fernseherfernbedienung. Game Over.
Was folgte, kann ich nur grob zusammenfassen und ist nicht meine Geschichte. In wenigen Stichpunkten zusammengefasst: Herz-Lungen-Wiederbelebung, so, wie wir sie alle beim Führerschein oder Ersthelferkurs gelernt haben. Inklusive der gebrochenen Rippen. Ein Notarzt, der zum Glück weniger als 10 Minuten bis zu uns nach Hause brauchte. Ein Defibrilator, der mehrfach angesetzt werden musste. Und ein Bundeswehrzentralkrankenhaus, in dessen Herzkatheterlabor ich gut 60 Minuten nachdem „es“ passiert war auf dem Tisch lag.
All dies weiss ich nur vom Erzählen. Mein eigener Film setzt undeutlich am Karfreitag auf der Intensivstation ein. Ich bin mehrfach aufgewacht – komplett zugedröhnt, vernebelt und mit einer schweren Gehirnerschütterung. Endlose Male hat mal meine Lebensgefährtin, mal eine Schwester oder ein Arzt mir erzählen müssen, was passiert war. Ich erfahre, was ein Stent ist. Ich hatte nun 2 davon. Und ich erfahre, dass ich wohl keinen Marathon in Hamburg mehr laufen werde. Nicht 2016 und auch nicht danach.
Die nächsten Tage und Wochen waren schwierig. Gelinde gesagt. Neben all den physiologischen Dingen, die mein Körper und ich erstmal verdauen mussten – 2 kaputte Rippen, die Gehirnerschütterung, die Stents und die erstmal recht heftige Dosierung diverser Medikamente – gab es jede Menge für den Kopf zu verarbeiten. Was bedeutet all dies für mich, meinen Beruf? Werde ich je wieder arbeiten können und dürfen? Was darf ich alles nicht mehr? Was ist mit der Lauferei? War’s das jetzt mit meinem Leben, wie ich es kannte? Welchen Sinn hat das alles jetzt noch? Was, wenn ich wieder einfach so irgendwo umkippe und niemand da ist, der reagiert, wenn das beim Autofahren passiert?
In der Reha, die direkt an den Krankenhausaufenthalt anschloss (darauf hatten meine Lebensgefährtin und ich bestanden), war ich mit Abstand mit meinen 38 Jahren der jüngste Patient. Der nächstjüngste war Anfang 50. Ich durfte dort also mit überwiegend 60jährigen und älteren langsam und nach und nach ein bissel Gymnastik machen. Unter Anleitung. Ein bissel vorsichtig Federball spielen war dann schon das highlight.
Im Herbst dann kam das Thema „vorsichtig wieder arbeiten“ auf die Tagesordnung. Hamburger Modell. Die erste Autofahrt von Koblenz nach Bonn kostete Kraft und Überwindung. Uns beide – meine Lebensgefährtin und mich. Ständig war da diese Angst, was geschehen würde, wenn „es“ wieder passiert. Dem eigenen Körper nicht vertrauen zu können, ist grausam. Es brauchte sehr lange, bis dieses Vertrauen so langsam zurückkehrte. Die Ausgestaltung des Hamburger Modells erwies sich auch als schwierig. Keines der Projekte auf meinem Schreibtisch vor meinem Herzinfarkt war für eine sofortige Übergabe an einen Vertreter vorbereitet. Und es war ja nicht so, dass ich nichts zu tun gehabt hätte. In mir gab es bei der Rückkehr in den Arbeitsalltag somit sehr widerstreitende Gefühle: Es war imperativ, auf mich zu achten, mir nicht zu viel auf einmal vorzunehmen und langsam wieder anzufangen. Aber dann war da das schlechte Gewissen jenen gegenüber, die im Frühjahr von heute auf morgen meine Arbeitslast mittragen mussten. Gepaart mit einem inneren Drang, es ihnen gegenüber „irgendwie wieder gut machen“ zu müssen, meine liegengebliebene Arbeit „aufholen“ zu müssen.
Der Weg aus dieser Krise war kein einfacher. Nur nach und nach stellte sich eine Sicherheit im Alltag wieder ein. Das ganz normale Vertrauen in die Tatsache, dass wenn man jetzt einschläft, am nächsten Morgen auch wieder aufwacht, dass man auch ankommt, wenn man jetzt mit dem Auto losfährt. All diese banalen Dinge waren lange Zeit alles andere als banal. Es gab vieles zu lernen. Gelassenheit vor allem. Und doch haben wir, meine Lebensgefährtin und ich diesen Weg zumindest bis hier und heute geschafft. Mit viel Geduld uns selbst gegenüber, mit viel Kommunikation, mit externer Hilfe und unter Rückgriff auf ein gutes belastbares Netz von Freunden. Auch die anfangs sehr enge Taktung regelmäßiger Kontrolluntersuchungen hat dabei geholfen.
Dieser Weg war nicht geradlinig. 2020, nach vier Jahren, fielen bei einer Kontrolluntersuchung ein paar Unregelmäßigkeiten im Herzrhythmus. auf. Bereits zuvor hatte ich beim Sport sehr untypisches Pulsverhalten gesehen und wir mussten ein Wochenende die Notaufnahme aufsuchen, weil der Puls trotz angepasster Medikation immer weiter nach unten ging, bis er eine 35 erreichte. Eine Katheteruntersuchung wurde anberaumt. Es ist ein sehr, sehr befremdliches Gefühl, wenn man sediert auf dem Tisch liegt, halbnackt, einen „Schlauch“ an der Leiste eingeführt wird und man Minuten später auf dem Monitor das eigene Herz live auf dem Monitor schlagen sehen kann. Und eine Ärztin, die in professionell-kühlem Ton erklärt, welches Blutgefäß gerade nicht in dem Zustand ist, in dem es sein sollte. So kam ich dann also zu einem dritten Stent. Viel von dem, was ich an Vertrauen in mich und meinen Körper zurückgewonnen hatte, war wieder weg. Back to square one. Nicht ganz, aber fast.
Offen geblieben ist die Frage nach dem „Warum?“. Warum ist mir all dies widerfahren? Woran lag es, was war die Ursache? Auf diese Frage gab es durch keine der zahlreichen Ärzt*innen, die ich in 2016 und folgend kennenlernte eine abschließende Antwort. Ich denke, diese ganze Vorgeschichte, wie ich sie oben geschildert habe, der falsche Umgang mit Stress haben einen großen Anteil daran. Was ebenfalls geblieben ist, ist die Restunsicherheit was Grenzen anbelangt. Bis wohin kann und darf ich mich quälen, beim Sport, beim Stress, beim (Über)Fordern? Kann ich es beim Sport in einem Maximalpuls quantifizieren? In Überstunden pro Woche beim Arbeiten? Für manche Dinge gibt es gut messbare Vorgaben, Cholesterinwerte zum Beispiel und Körpergewicht. Aber wie tragisch wäre es wirklich, wenn das LDL bei einer Kontrolle statt bei 55mg bei 70mg läge? Ich weiss es nicht und vermutlich weiss es niemand genau. Aber diese Unsicherheit ist als ständiger Begleiter da, auch wenn ich im Laufe der letzten 6 Jahre lernen musste und zu einem guten Teil gelernt habe, mit ihr zu leben.
Dies ist also meine Geschichte. Ich weiss, sie hat nur am Rande mit dem Thema „Leistungsschwäche“ zu tun. Aber ich denke, sie tangiert einiges, was im Kontext dessen diskutiert wurde. Deswegen wollte ich sie heute niederschreiben: Es geht um schlechtes Stressmanagement, um scheinbar ausweglose Situationen, in die Jede*r geraten kann und in denen es besser wäre, Hilfe zu suchen oder anzunehmen, statt sich in sich selbst zu verkriechen. Es geht darum, sich nicht dauerhaft selbst zu überfordern. Bei vielen Geschichten, die diesem Kontext auftauchten, war es die Seele, die dann irgendwann „dicht gemacht hat“. In meinem Fall war es der Körper. Und es ist auch eine Geschichte darüber, mit Einschränkungen und Unsicherheiten leben zu müssen.
Allen, die sich bis hierhin durchgekämpft haben, danke ich für die Geduld und das „Zuhören“. Ich will kein Mitleid, dafür genieße ich mein Leben so wie es hier und heute ist zu sehr. Es war auch nicht meine Absicht, zu schockieren. Vielmehr möchte ich neben dem „passt auf Euch und aufeinander auf“ zeigen, dass „Leistungsschwäche“ viele verschiedene Gesichter hat. Und dass ein im Tonfall abwertend klingender Satz, dass ja nur Leistungsschwache Stress haben, vor dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen diesem Umstand nicht gerecht wird.
Genial das du das aufgeschrieben hast! Jedes Leben ist anders, aber ich kann das meiste hier gut aus meiner eigenen Situation nachvollziehen und auch der Zeitrahmen war ähnlich, nur das es mich in den zivilen Einsatz und in die Flucht in politisches Engagement und natürlich die Arbeit getrieben hat.
Danke für die offene Darstellung! – gerade in unserem Beruf eher ungewöhnlich sich so zu öffnen, aber sehr hilfreich und bewegend! Ich habe mich in vielen Bereichen wiedergefunden und es hilft immer zu sehen, dass man nicht allein ist mit ein paar „falschen“ Abzweigungen im Leben.
Alles Gute und Danke noch mal!!
Danke Ihnen für dieses Feedback!