AfD Wahlergebnisse im Osten – meine Sicht

Viel wurde dieser Tage bereits zum Abschneiden der AfD in Brandenburg und Sachsen gesagt, geschrieben und kommentiert. Viel Richtiges und Nachvollziehbares war dabei und auch weniger Brauchbares. Nun möchte ich also auch noch meinen Senf dazugeben. Warum?
Nun, die bisherigen Analysen zu den „ostdeutschen Wahlbesonderheiten“ haben einige aus meiner Sicht wichtige Dinge noch nicht so ausführlich betrachtet und zudem bin ich selber Ossi. Der Herkunft nach jedenfalls. Oder vielleicht wäre heute ein Begriff wie „Ex-Ossi“ oder „Exil-Ossi“ besser?! Ich fand auch die Bezeichnung „Zonenkind“ zumindest zeitweilig sehr zutreffend, wie ihn Jana Hänsel geprägt hat. Später taucht er in einer sehr passgenauen Textzeile der Deutschpop-Band „Viginia Jetzt!“ auf: „Nicht Ost, nicht West – längst zwischendrin, 15 Jahre immerhin, Zonenkind.“ Aufgrund dieses Status als „Zonenkind“, auch wenn meine Zeit im Osten mittlerweile 20 Jahre her ist, möchte ich mir also anmaßen, die Politik im Osten Deutschlands zu kommentieren.

Eines der Dinge, die meiner Meinung nach in der Bewertung der ostdeutschen Stimmungslage zu wenig beachtet wird, ist das Bild, welches man sich vor der Wende im Osten vom Westen Deutschlands gemacht hat und die daraus resultierenden Missverständnisse auf ostdeutscher Seite. Wir Ossis kannten „den Westen“ ja nur aus dem Fernsehen, wenn überhaupt. Einige wenige vom Schicksal Privilegierte hatte zudem noch „Westverwandtschaft“. Wow! Aber für die meisten war „der Westen“ ein sagenumwobenes Märchen- und Schlaraffenland, in dem jeder zweimal im Jahr in den Urlaub fahren konnte -im Sommer nach Malle und im Winter zum Skifahren nach Österreich oder in die Schweiz- und alle zwei Jahre ein neues Auto (und zwar ein richtiges Auto) sofort und zum Spottpreis kaufen konnte. „Der Westen“ war das Land, wo Coca-Cola und richtiger Bohnenkaffee flossen und alles schick, poliert, sauber und vor allem bunt und neu war. Dass es im Westen immer und zu jeder Zeit auch Schattenseiten gab -Kriminalität, Probleme bei der Integration von Zugewanderten, sozialen Abstieg, Arbeitslosigkeit, prekäre Lebensverhältnisse- das wurde von uns Ossis meist geflissentlich übersehen. Gerade jener Teil des Ostens, der nun in den Medien verhandelt wird -Sachsen und Teile Brandenburgs- muss für dieses positive Zerrbild vom „Westen“ besonders anfällig gewesen sein. Zu DDR-Zeiten nannten wir die Gegend „Tal der Ahnungslosen“, weil die Reichweite des „Westfernsehens“ sich nicht bis dorthin erstreckte. Während wir mit unserer Westverwandtschaft die alten Klamotten unserer Westcousins auftrugen, die zwei-, dreimal im Jahr in den Westpaketen zu uns „rübergeschickt“ wurden und im Fernsehen „Colt Seavers“ oder „Trio mit vier Fäusten“ schauten, war man weiter im Osten der Zonenpropagada wehrlos ausgesetzt. Im Ergebnis blieb „der Westen“ dort jene nicht überprüfbare und mythische Projektionsfläche für alle Heilsversprechen, die der realexistierende Sozialismus tagtäglich brach. Da die Zonenpropaganda immer und überall falsch lag, musste als das genaue Gegenteil der Anti-Westpropaganda stimmen. Unbewusst baute sich eine Erwartungshaltung hinsichtlich „des Westens“ auf, an welcher dieser nach der Wende zwangsläufig scheitern musste.

Deutlich wurde mir das dieser Tage in einer Sendung des Deutschlandfunks, in welcher AfD-Wähler in Sachsen befragt wurden, wieso sie diese Partei wählen. Ein Herr sagte, er wolle, dass alles wieder so wird wie früher, mit Kohl und Waigel und so. Man imaginiert sich eine vermeintlich bessere Vergangenheit, die es so nie gab, die man selber auch nie kennengelernt hat, und will diese Vergangenheit auf Teufel komm raus zurückhaben. 8 der 16 Jahre von Kohls Kanzlerschaft waren rein westdeutsch. Ohne den glücklichen „Schicksalsschlag“ der Wende, wäre diese Kanzlerschaft 1990 kläglich beendet worden. Und in den Nachwendejahren, nachdem die Vereinigungseuphorie verflogen war, machte sich gerade im Osten schnell Ernüchterung breit – mitnichten waren die „Kohljahre“ für die meisten von uns Ossis „fette und glückliche“ Jahre: Abwicklung der maroden Ostwirtschaft, Überführung in ein neues Gesellschafts- und Wirtschaftssystem mit allen verbundenen Anpassungsschmerzen, Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung. Ausgerechnet jene AfD-Wähler, die sich heute Kohl zurückwünschen, waren es doch, die vor lauter Enttäuschung und Frust den „Kanzler der Einheit“ anfangs der 90er in Halle/Saale mit Eiern beworfen hatten.
Dies überlagert sich mit der ohnehin menschlichen Tendenz, Vergangenes zu verklären: „Früher war eh immer alles besser…“ Nein, das war es nicht! Weder im Osten noch im Westen. Es war anders und einzelne Aspekte des Lebens mögen eventuell als besser empfunden werden. Aber diese kann man nicht aus dem Zusammenhang herausreißen und einfach so in die Gegenwart übertragen. Das Bonmot, dass „Konservative Menschen sind, die wollen, dass alles wieder so wird, wie es noch nie war.“ trifft aus meiner Sicht auch auf die heutige Stimmungslage im Osten zu.

Ebenso war uns Ossis damals nicht bewusst (wie sollte es das auch), dass Freiheit Verantwortung bedeutet und „sich entscheiden müssen“; in den „Glorreichen Sieben“ gibt es eine sehr eindrückliche Szene, in welcher der das Bauerndorf in Mexiko tyrannisierende Mescal den Helden erklärt, warum die Bauern die „glorreichen Sieben“ eben zu seinen Gunsten verraten haben: „Bei mir weiß dieses Volk genau, was es zu tun hat, nämlich das, was ich ihnen sage. Solange sie das tun, gibt es keine Probleme. Bei Dir müssen sie sich zu viel entscheiden.“ Oder ganz platt: Diktatur ist einfach, Demokratie und Freiheit sind (meistens) kompliziert. Ferner beinhaltet Freiheit eben auch immer die Möglichkeit des Scheiterns. Zwar gab es ein für den Fall des Scheiterns ein soziales Netz im Westen; Netze können sinnvoll sein und einen Fallenden am weiteren Sturz hindern, sie sind jedoch auch geeignet, um jemanden darin einzufangen und festzuhalten. Aufgefangen und gefangen im Netz der sozialen Absicherung, sah die Freiheit des Westens schon deutlich weniger attraktiv aus. Freiheit war, was wir damals nicht wussten oder wissen wollten, anstrengend und eben manchmal auch gefährlich.

Und sie war uns unbekannt. Zwischen der Gründung des deutschen Reiches 1871 und der Wende 1989 liegen gut 120 Jahre; 118 um genau zu sein. In diesen gab es für den Ossi genau 14 Jahre hochprekärer und in Teilen dysfunktionaler Demokratie. Die Demokratie als Regierungsform stellt jedoch vergleichsweise hohe Ansprüche an die Mitglieder einer Gesellschaft, damit sie funktionieren kann, wie dies u.a. ein Herr Montesquieu in seinem „Vom Geist der Gesetze“ herausgearbeitet hat: Wissen um die Funktionsweise einer Demokratie, allgemeine Akzeptanz ihrer Spielregeln, Diskursfähigkeit, Engagement, Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Sachkompetenz in Fachfragen, Toleranz gegenüber anderen und der eigenen gegebenenfalls entgegenstehenden Meinungen; die Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Informationsangeboten qualitativ Gesichertes von geschickten Lügen zu unterscheiden. Voraussetzungen und Eigenschaften, die uns Ostdeutschen weder in der braunen noch in der roten Diktatur beigebracht worden waren. Und ja, auch „im Westen“ sind die Voraussetzungen für das Funktionieren einer demokratischen Regierung nicht im vollen Umfang gegeben; dort jedoch wird dies durch Gewohnheit und „geübte Praxis“ kompensiert. Denn der Mensch ist im wesentlichen ein Gewohnheitstier und ethisches Handeln galt bereits in der Antike bei Aristoteles als „praktische Übung“. An dieser mangelte es im Osten mit Blick auf die gelebte Demokratie.

Auf diese Gemengelage von übersteigerter Erwartung an die westliche Demokratie und die fehlende praktische Erfahrung im Umgang mit dieser kamen dann im Zuge der Wende die Wahl- und Heilsversprechen, die v.a. westliche Politiker im Wahlkampf für die ersten und einzigen freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 machten. Bewusst oder vielleicht auch einfach nur aus grandioser Unterschätzung der realen Herausforderungen, die der situativen kollektiven Euphorie geschuldet sein mag, wurde damals von vielen Seiten Öl in das Feuer übersteigerter Erwartungen an den Westen gegossen. Jene Parteien, Bündnisse und Strömungen, die vor allem (oder: nur) für eine Liberalisierung und politische Reformen im Staat DDR eintraten, also für eine „politische Revolution“ in einem Land ohne dessen Übernahme durch ein anderes, wurden schnell beiseite gefegt. Gruppierungen wie das „Neue Forum“ oder „Demokratie jetzt!“ wurden schnell mit dem realexistierenden Reformflügel der SED in einen Topf geworfen und abgestraft und auch eine SPD, die es wagte auf die ökonomischen wie sozialen Herausforderungen einer schnellen Wiedervereinigung hinzuweisen, wurde an der Wahlurne bestraft. Das Volk hatte sich für das Versprechen der „blühenden Landschaften“ entschieden. Die Revolution in der DDR, die zunächst vor allem die Beseitigung politischer Unterdrückung und Befreiung zum Ziel hatte, wurde in ihrem Verlauf in eine vor allem von ökonomischen Begehrlichkeiten getriebene und inhaltlich nicht weiter hinterfragte Übernahme eines anderen politischen Systems umgewandelt. Den Zeitpunkt hierfür kann man meiner Meinung nach sehr gut festmachen: Als in Leipzig und andernorts aus den Rufen „Wir sind das Volk!“ ein „Wir sind ein Volk!“ wurde, stand nicht mehr die Freiheit im Fokus der Revolution sondern nur noch die D-Mark und die mit dieser verbundenen überzogenen Heilserwartungen. Dies fiel zunächst nicht weiter ins Gewicht, da es sich beim politischen System des Westens um ein sehr liberales System handelte und mit der wirtschaftlichen Freiheit auch eine weitgehende politische Befreiung einherging. Jedoch holt uns heute ein, dass es vielen Ostdeutschen gar nicht um die Erlangung der politischen Freiheit, sondern zuvörderst um ökonomische Vorteile ging. Eine ökonomische Gleichstellung des Ostens mit dem Westen Deutschlands, diese mit den „blühenden Landschaften“ verbundene Hoffnung, musste jedoch aufgrund der fundamentalen Fehleinschätzung der tatsächlichen Wirtschaftslage im Osten beinahe zwangsläufig scheitern bzw. ein nur sehr, sehr langfristig realisierbares Projekt bleiben. In der „Zeit“ tauchten dieser Tage ein paar Stimmen auf, die meinten, die AfD verspräche den Ostdeutschen die Bequemlichkeit und heimelige Vertrautheit der DDR ohne jedoch deren Mangelwirtschaft, Unterdrückung, dafür mit Reisefreiheit und Golf statt Trabbi. Eine geschlossene, paternalistische und homogene Gesellschaft mit ökonomischem Wohlstand. Ich denke, dies bringt die Divergenz von ökonomischen und politischen Erwartungen an die Wende gut zum Ausdruck.

Die Leichtigkeit, mit der das ökonomische Heilsversprechen der D-Mark und des westlichen Wirtschaftssystems in der Wendezeit jeden Versuch, über politische Freiheiten grundsätzlich und in Ruhe debattieren zu wollen, beiseite fegte, erklärt sich neben der seinerzeit wirtschaftlich prekären Situation des Ostens auch mit einem Gerechtigkeitsargument und dem gefühlten ökonomischen Nachholbedarf des Ostens. Dies Gerechtigkeitsargument besagt, verkürzt: „Ganz Deutschland hatte 1939 einen Weltkrieg vom Zaun gebrochen, aber nur ein Teil Deutschlands, der Osten, wurde anschließend dafür bestraft.“ Während im Westen dank des Marshallplans und der einfachen Tatsache, dass man von den „richtigen“ Alliierten besetzt wurde, Wirtschaftswunder geschahen, Milch, Honig und eben Coca-Cola flossen, Autos in millionenfacher Zahl vom Band liefen und das Land wirtschaftlich wie politisch prosperierte, wurde der Osten einer stalinistischen Hemisphäre einverleibt, die Wirtschaft durch Reparationen und Ausplünderung sowie planwirtschaftliches Missmanagement zu Grunde gerichtet und jeder Versuch einer Opposition dagegen brutal unterdrückt. Es ist wie bei einem Brüderpaar, welches gemeinsam etwas Schlimmes anstellt, aber nur einer der beiden wird bestraft, während der andere vermeintlich gar noch belohnt wird. Und nicht nur, dass beide ungleich behandelt werden, der bestrafte Bruder darf dank des Westfernsehens auch noch mitansehen, wie der andere seine unverdiente Belohnung genießt Dies erklärt auch in Teilen, die Verschämtheit, mit welcher die Westpakete als Gewissensberuhigung versendet wurden. Und während man in der DDR stets neidisch und ein wenig ehrfurchtsvoll-sehnsüchtig in den Westen schielte, machte sich im Westen schnell neben dem schlechten Gewissen gegenüber „unseren Brüdern und Schwestern im Osten“ eine gewisse Ignoranz breit, trotz aller Lippenbekenntnisse und des Pflichtgedenkens am 17. Juni. Nun, wie sollte eine materialistische Konsumgesellschaft, der es an nichts mangelte auch nachvollziehen können, was es bedeutete in einer sozialistisch-diktatorischen Mangelwirtschaft aufzuwachsen? Klar, es gab Bilder von Berlin 1953, Budapest 1956 oder dem Prager Frühling von 1968 im Fernsehen – aber nur durch Bilder kann ein echtes Mit- und Nachempfinden nicht erzeugt werden.

Mit der Wende 1989 kam also neben allen bereits genannten übersteigerten ökonomischen Erwartungen auch diese hinzu: Im Osten erwartete man, nun über Nacht auf Augenhöhe mit den „Brüdern und Schwestern“ im Westen vereint zu sein und all die Entbehrungen der vergangenen 40 Jahre auf einen Schlag kompensieren zu können. Was für ein Irrtum! Bei Willy Brandts vielzitiertem „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!“ muss man die Betonung auf den normativen Charakter der zweiten Satzhälfte legen – es war eine Forderung an die Zukunft, keine Beschreibung des Jetzt. Ja, es waren zwei Staaten, die früher einst ein Staat waren und daher wieder zusammenwachsen sollten; mitnichten jedoch waren die meisten Ostdeutschen einfach so ohne Weiteres bereit, alles aufzugeben und zu den Akten zu legen, was sie seit 1945 erlebt und erlitten hatten. Hier liegt, meiner Meinung nach, eine Fehleinschätzung des Westens vor: Zu glauben, dass eigene Gesellschaftsmodell sei alternativlos, zwangsläufig das allgemein akzeptierte und somit sakrosankt. Ebenfalls war in einigen Analysen dieser Tage zu lesen, dass aus Sicht des Westens deutsche Geschichte immer nur westdeutsche Geschichte war. Stimmt. Und die Prägung, die jenes zusammenwachsende Deutschland nach 1990 erhielt, war durch und durch westdeutsch. Das einzige „Mitbringsel“, welches der Osten in das wiedervereinigte Deutschland mit einbrachte, war der grüne Rechtsabbiegerpfeil an der Ampel. Und selbst den haben auch 30 Jahre nach der Wende viele Wessis noch immer nicht richtig verstanden… Dafür erhielten wir Ossis die Treuhandgesellschaft, eine massive Bevölkerungsabwanderung gen Westen und jede Menge ausrangierter Westpolitiker unterschiedlichster Qualität. Diese totale Übernahme des Ostens durch den Westen war in der unterschiedlichen ökonomischen Ausgangssituation der beiden Landesteile begründet sowie im politisch-moralischen Bankrott, den unmittelbar zuvor alle gesellschaftlichen Alternativmodelle zum westlichen Kapitalismus erlitten hatten. Natürlich – der Kapitalismus hatte im Kalten Krieg über den Kommunismus und Sozialismus gesiegt und natürlich hat der Sieger das Recht, die Geschichte in seinem Sinne zu schreiben und zu deuten. Problematisch darin ist nur, dass jene Alternativlosigkeit des siegreichen Systems als Bevormundung empfunden wird und die Überstülpung des westlichen Gesellschaftsentwurfes bei vielen Ostdeutschen früher oder später Abwehrreflexe hervorrufen sollte.

Dies alles rührt schließlich an das große Thema „Anerkennung“ und der sich daraus konstituierenden „Identität“ – für viele Ossis war mit dem Untergang der DDR der gesellschaftliche Bezugsrahmen, das System an Verhaltensnormen im Alltag über Nacht verloren gegangen. Mehr noch – in der Öffentlichkeit wurde einem tagtäglich mitgeteilt, dass dieser Bezugsrahmen falsch war und einzig und allein der Wertekanon des Westens der richtige, weil erfolgreiche war. Dadurch wurden Lebensläufe und Lebensentwürfe über Nacht entwertet, alle Leistungen, die im Osten erbracht wurden, verloren jegliche Anerkennung. Diskussionslos. Denn die Gesellschaft hüben wie drüben war kaum an den „ernsten und tristeren“ Seiten der Erfolgsgeschichte „Wiedervereinigung“ interessiert. Menschen wie ich hatten es dabei noch vergleichsweise einfach: In meinem Fall war noch keine Lebensgeschichte wertlos geworden. Einen Lebensentwurf hatte ich noch nicht fest vorgezeichnet, dafür war ich zum Zeitpunkt der Wende noch zu jung. Ich konnte wie viele andere „das Beste draus machen“ und das bedeutete in sehr vielen Fällen: Go west! Übernahme und Akzeptanz des Wertekanons des Westens – junge Menschen sind hier ja noch lernfähiger, weniger festgefahren und formbarer. Es folgte also der Exodus aus dem Osten. Vor allem waren es junge Menschen wie ich, die noch auf eine bessere Zukunft hoffen konnten, die gingen. Denn die Hoffnung lag seinerzeit in den 90ern im Westen, nicht in der „alten“ Heimat im Osten. Zurück blieb, wie in einem sehr zynischen Witz der Wendetage, „DDR – Der Doofe Rest“. Menschen, die im Westen nichts zu erhoffen hatten, Menschen mit Kindern und viele, viele Alte und vom frisch eingezogenen Westsystem Aussortierte. Meine Besuche bei meinen Eltern in Magdeburg waren ab Ende der 90er immer ernüchternder und schockierender: Der Alltag war geprägt von unzufriedenen, gefrusteten und verärgerten Menschen, die meisten jenseits der 50. Eine ganze Stadt schien das Gesicht zur Faust geballt zu haben. Wie kann man da frohen Mutes bleiben und hoffnungsvoll eine Zukunft gestalten wollen?

Ich glaube, es war in den 90ern und zu Beginn der 0er Jahre, dass die soeben wertlos gewordene DDR-Identität im Osten Deutschland nachbesetzt wurde. Jedoch wurde diese nicht wie bei den weggezogenen Ossis durch eine gesamtdeutsche Identität abgelöst, sondern durch eine spezifisch Ostdeutsche: „Wir sind vom Russen und den Kommunisten unterdrückt worden, wir sind in der Wende verraten und verkauft worden, wir sind eine vom Schicksal benachteiligte, aber homogene und zusammenhaltende Schicksalsgemeinschaft“. Es ist eine ganz, ganz üble und bittere Ironie der Geschichte, dass es nun wieder ausgestoßene Westpolitiker und populistische Rattenfänger sind, die mit der DDR nichts, aber auch gar nichts zu tun hatten, die versuchen, die Kluft zwischen westdeutsch geprägter Mehrheitsgesellschaft in Deutschland und jener geschlossenen und sich selbst isolierenden Minderheit ausnutzen und für ihre völkisch-nationalistischen Zwecke instrumentalisieren wollen. Einfach, indem sie den Ostdeutschen jene Anerkennung für ihr Dasein vorgaukeln, die ihnen bislang bei der ausschließlich westdeutsch -von „Besserwessis“- geprägten Politik der Nachwendezeit fehlte. Die Gaulands, Höckes, von Storchs, Kalbitzes, Weidels und Meuthens – alles Wessis, die mit den weiter oben von mir beschriebenen Ostdeutschen nur eines verbindet: Die gemeinsame Ablehnung, ja der Hass auf das liberale und freiheitliche Gesellschaftsmodell der Mehrheit in Deutschland.

„Was aber tun?“, sprach Zeus… Wie mit dieser Situation umgehen, mit der Tatsache, dass nicht einfach so zusammengewachsen ist, was doch eigentlich zusammenwachsen sollte? Wie die Versäumnisse der Wendezeit wieder gut machen? Wie kann man die Nachwehen westlicher Überheblichkeit und ostdeutscher Frustration jener Tage beheben? Wie die in meiner Wahrnehmung stetig wachsende Kluft zwischen Ost und West verringern oder überwinden?
Nun, ich denke, als erstes ist die offene Diskussion darüber notwendig. Ein offener, ernstgemeinter und auf Augenhöhe angesiedelter Versuch, deutsche Geschichte, west- sowie ostdeutsche Geschichte auf ihre Höhen und Tiefen und die Prägungen, die diese bei den Betroffenen hinterlassen haben, abzuklopfen. Solange deutsche Geschichte und resultierende Identitäten vor allem westdeutsch interpretiert werden, werden wir den Osten verlieren.
Dazu gehört aber auch, die Deutungshoheit über ostdeutsche Geschichte nicht den Verklärern zu überlassen, jenen, die aus Gründen politischer Rattenfängerei ein idealisiertes Bild vom Osten zeichnen ohne den diktatorischen Gesamtkontext der DDR sehen zu wollen.
Ferner gehört die Akzeptanz dazu, dass es zwischen 1949 und 1989 zwei Staaten auf deutschem Boden gab. Dass die Bewohner dieser beiden Staaten sich nach unterschiedlichen Wertesystemen ausrichteten und unterschiedlich sozialisiert wurden, dass eine nicht zu hinterfragende Überstülpung eines Wertesystems über das andere nicht folgenlos bleiben kann.
Wichtig wäre auch, die Ereignisse der Wendezeit transparent aufzuarbeiten, zu zeigen, ob, wo und wie der Osten seinerzeit „untergebuttert“ oder „übers Ohr gehauen wurde“. Dies müsste durch in West wie Ost gleichermaßen akzeptierte Akteure erfolgen.

All dies braucht Zeit. Zeit und Erfolgsgeschichten. Narrative, wie man neudeutsch sagt. Wir brauchen positive Vorbilder und Erfolgsmodelle und eine gemeinschaftlich verhandelte und akzeptierte Geschichte Deutschlands, wenigstens der Nachwendezeit, wenn wir zukünftig als ein Volk in einem Staat leben wollen. Möglicherweise bietet eine zunehmende Europäisierung der Politik und damit auch eine sich entwickelnde europäische Geschichte einen Ausweg aus diesem Dilemma. Allerdings ist mit Blick auf Verhalten und Denkmuster vieler osteuropäischer Staaten Skepsis geboten – vieles, was für Deutschland im Kleinen und spezifisch weiter oben gesagt wurde, kann aus meiner Sicht auf einer größeren Ebene und entsprechend abstrahiert auf Europa übertragen werden: Die übersteigerten Erwartungen an das westliche Modell nach der Wende, die Enttäuschung und der Frust der Nachwende-Ernüchterung, das Gefühl, vom Westen ausgenutzt worden zu sein, die Priorität, mit welcher ein ökonomisches Aufholen verfolgt wird bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber einer echten Auseinandersetzung mit Grundfragen der politischen Ordnung.
Kann dies also gelingen?

Ich zweifle…

Kommentar verfassen