Nach langer, langer Zeit der Stille auf diesem Blog möchte ich endlich mal wieder einen längeren Gedankengang aufs digitale Papier bringen. Weg von den meist zwangläufig verkürzenden und dem Zeitgeist geschuldet zunehmend polemischen Beiträgen der sozialen Medien, hin zu etwas mehr Erläutern, warum und wieso ich zu welcher These gelange.
Zur Wahl in Thüringen möchte ich hier ein paar Beobachtungen und Thesen niederschreiben, andere würden auf Seitenpfade zu grundsätzlicheren Themen führen und werden daher folgend nur angerissen.
These 1: Es gibt ein tiefes Missverstehen von Kommunalpolitik und deren Rolle im politischen Gesamtsystem Deutschland.
Dies zeigt sich sehr gut in einem Interview des DLF mit dem Vorsitzenden des thüringischen Städte- und Gemeindetages (link) aber auch in der Aufmerksamkeit, mit welcher die bisherige Amtszeit des AfD-Landrates Sesselmann in Thüringen verfolgt wird (link und link). Kommunalpolitik ist meist praktische Arbeit. Und zwar Arbeit ganz im Sinne Hannah Arendts – sie ist eng den Notwendigkeiten und dem Konkreten des Alltags unterworfen, sie ist unabweisbar, stetig wiederkehrend. Grundsatzphilosophie Betrachtungen, ideologiefeste Überzeugungen können dabei allenfalls als Kompass dienen, einen ordnenden Rahmen für Entscheidungen geben – lösen aber alleine noch keine Probleme.
Natürlich spielen bei vielen Fragen des Alltags grundsätzliche Werthaltungen eine Rolle. Wie Kommunen bei der Finanzierung der Mittagsverpflegung in den Grundschulen Familien entlasten, ob auf Gemeindegebiet Windräder oder Freiflächen-PV-Anlagen gebaut werden, welche Auflagen zur Dachbegrünung in neuen Bebauungsplänen verankert werden – das sind Entscheidungen, bei denen sich grundsätzliche parteipolitische Überzeugungen auch auf unterster Ebene niederschlagen. Zugleich jedoch gibt es immer mehr Reglungen und Anreize durch Bund und Länder, die den Kommunen Handlungs- und Entscheidungsspielräume beschneiden. Viele Kommunalpolitiker erleben sich zunehmend nur noch als „Abnickorgan“ für Entscheidungen der höheren politischen Ebenen, um diesen den Anstrich basisdemokratischer Legitimation zu verleihen.
Und so kommt es, dass Journalisten aus der Berliner Hauptstadtblase mit der ihnen eigenen Brille auf die Kommunalpolitik blicken, diese deuten und bewerten. Nur: Die Diskurse vor Ort an der Basis sind eben nicht 1:1 mit der großen Politik identisch. Und die Rahmenbedingungen, die konkreten handelnden Personen vor Ort unterscheiden sich von Fall zu Fall. Anträge der Freien Wähler, die in Schifferstadt konsensfähig waren, scheitern in Mülheim-Kärlich eben an jenen Freien Wählern, eine SPD im Kreis Mayen-Koblenz polemisiert massiv gegen den ÖPNV, während die Bundes-SPD sich für dessen Ausbau einsetzen mag, eine Jamaika-Koalition auf Kreis- oder Gemeindeebene mag bestens funktionieren, obwohl ein Friedrich Merz die Grünen zum Hauptgegner erklärt (während er rhetorisch kaum gegen die AfD austeilt).
Eine weitere Fehlwahrnehmung der kommunalen Politik scheint mir in der Fokussierung auf das Amt des Landrates bzw. der Landrätin zu liegen. (Wieviele Landrätinnen gibt es eigentlich in Deutschland bzw. konkret in Thüringen?) Unbenommen, der Landrat stellt die Spitze der kommunalen Verwaltung dar. Wie jedoch ein Kanzler oder eine Ministerpräsidentin – ohne die Mehrheit im Parlament, dem Rat, kann er oder sie wenig ausrichten. Wesentliche Entscheidungen und nicht zuletzt der Haushalt eines Landkreises werden im Kreistag beschlossen, nicht im Büro der Verwaltungsspitze. Und nachdem auf Ebene des Kreises Entscheidungen getroffen wurden, unterliegen diese in der Regel noch der Kommunalaufsicht. In Rheinland-Pfalz gibt es hierfür die „Struktur und Genehmigungsdirektion“ sowie die „Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion“. Ich nehme an, dass Thüringen vergleichbare Instanzen hat; sicher ist jedoch, dass die Landkreise nicht in einem rechtsfreien Raum agieren können, sondern etlichen kommunalrechtlichen und vor allem auch fiskalischen Rahmenbedingungen unterliegen.
Und -möglicherweise auch, weil das medial vermittelte Bild zur kommunalen Politik so mangelhaft ist- bei Bürgerinnen und Bürgern besteht oft nur rudimentäre Kenntnis über Kommunalpolitik und deren Grenzen: Ich verweise nochmal auf den oben verlinkten Fall „Sesselmann“. Kaum ein Thema aus seinem Wahlkampf ist tatsächlich ein spezifisches Landkreisthema. Fragen der Asyl- und Migrationspolitik, der inneren Sicherheit, der Unterbringung bzw. Abschiebung von Asylbewerbern haben ihn ins Amt gebracht, werden aber eben nicht auf Kreisebene entschieden. Dort geht es, wenn überhaupt, um die konkrete Ausgestaltung vor Ort der weiter oben getroffenen Entscheidungen zu diesen Themen.
Aufgrund dieses tiefen Missverstehens sowohl von „oben“ aus Bundessicht wie auch von „unten“ aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger wird die Kommunalpolitik mit Erwartungen überzogen, denen sie unmöglich im Alltag gerecht werden kann. Sie wird damit zum Prell- und Sündenbock und muss den Kopf für Dinge hinhalten, die sie selber immer weniger beeinflussen kann.
Die „gute Nachricht“ daran – dies wird die AfD jetzt vielerorts vermeintlich entzaubern, wie der „Spiegel“ es im Fall „Sesselmann“ dem AfD-Landrat attestiert. Auch AfD-Politiker werden im Zuständigkeitsregel-Wirrwarr der Praxis und unter den bestehenden bundes- und landesgesetzlichen Vorgaben nur bedingt gestalten können und in diesem überschaubaren Gestaltungsrahmen Problemlösungskompetenz beweisen müssen.
Die schlechte Nachricht daran – sollte dies passieren, bestätigt das nur ein ohnehin latent vorhandenes Ohnmachtsgefühl. Das Gefühl, als Bürger mit seiner Stimme keinen Unterschied zu machen, wird die ohnehin nur schwach ausgeprägte Zuneigung zu unserer demokratischen Grundordnung und den Strukturen unseres Staates weiter aushöhlen.
These 2: Politik ist insbesondere auf kommunaler Ebene emotional, nicht rational.
Dieser Punkt ist für mich eng verflochten mit der ersten These. Während einerseits erhebliche Defizite beim Wissen um kommunale Zuständigkeiten, Gestaltungsspielräume und Handlungsfelder bestehen, gibt es andererseits eine tiefe und für viele nur schwierig zu artikulierende Sehnsucht nach einem „gemütlichen“ und „aufwandsarmen“ Normalzustand. „Die Politik“ hat zu liefern und zwar die möglichst aufwandsarme Erfüllung der Maslow’schen Bedürfnispyramide auf den unteren und mittleren Stufen. Solange dies gewährleistet ist, interessiert die „Welt da draußen“ nicht besonders. „Politics as a Service, not as an obligation.“ Der mündige Staatsbürger und verantwortungsbewusst am politischen Geschehen teilhabende Citoyen ist eine statistische Ausnahme.
Und es sind tatsächlich eher „Basics“ an denen der Outcome des „Servicedienstleisters“ Politik gemessen wird – die Schule und Kita müssen funktionieren, auf den Straßen sollten nicht zu viele Schlaglöcher sein, Miete, Strom und Brot im Supermarkt müssen ebenso bezahlbar bleiben so wie der Jahresurlaub und der Sprit für den Tank. Dazu sollte es bitte nicht zu viele Fremde vor Ort geben (schon gar keine Ne**r oder Kan***en) und wenn Andi Breme uns zum Weltmeistertitel schießt ist die Welt in Ordnung. That’s it. Wir sehnen uns, denke ich, vielerorts nach einem imaginierten Wohlfühlort, der gerade für die Altersgruppe um die 50 und älter in den frühen 90ern liegt.
Lange Diskurse über eine „Welt im Umbruch“, über demographischen Wandel, über die Notwendigkeit von Zuwanderung, über Maßnahmen gegen Klimawandel sind viel zu verkopft und stören diese Gemütlichkeit. Alles, was uns aus der eigenen emotionalen Komfortzone wirft und gar von uns verlangt, unser Verhalten zu ändern, ist bedrohlich, ein Angriff auf uns und unseren Alltag. Niemand wählt den nervigen Klassenstreber aus Schultagen, der auch 20-30 Jahre nach der Schule rumnervt und alles besser zu wissen glaubt. Schon gar nicht, wenn das Versprechen, es könne alles wieder so werden, wie es früher war auf dem Tisch liegt.
Hinzu kommt, dass im Osten Deutschlands der Übergang von einer den Menschen alle Entscheidungen und Verantwortung für das eigene Alltagsleben abnehmenden Diktatur hin zu einer das persönliche Engagement und Mitmachen einfordernden Demokratie mit Verwerfungen, Abstiegsängsten und Verlusterfahrungen verbunden war und ist. Das Narrativ von der Demokratie als Erfolgsgeschichte ist ein überwiegend westdeutsches (gewesen) – in weiten Teilen des Ostens ist es das aufgrund der Erfahrungen der 90er und 0er Jahre weniger. Dies ist allerdings ein Exkurs, den ich hier nicht vertiefen kann und werde. (siehe u.a. hier link)
Somit die „schlechte Nachricht“ an dieser Stelle: Um es mit Maja Göpel zu sagen: Das Bestehende bedarf keiner Erklärung und Rechtfertigung, derjenige, der etwas verändern will steht unter Erklärungsdruck. Dies wird uns in einer sich ständig und dramatisch verändernden Welt mittelfristig nicht weiterhelfen, auch wenn es kurzfristig Wahlen gewinnen hilft. Für die Anpassungsfähigkeit und Lernfähigkeit unserer Gesellschaft stellt dies eine Herausforderung dar. Denn – damals wie heute hat dieser nervige Klassenstreber in der Sache recht. Aus lauter Freckigkeit, wie man im Rheinland sagt, nicht auf ihn zu hören, ihn zu verkloppen und mundtot zu machen ändert leider gar nichts daran, dass er die Physik-Hausaufgaben mal wieder als einziger in der Klasse richtig hatte und wir anderen nicht. Die Welt um uns herum ändert sich dramatisch und wenn wir uns nicht mit ihr ändern, werden wir untergehen.
These 3 Kommunalpolitik menschelt und unterliegt einem lokalen Konformitätsdruck.
Auch dies hängt mit dem zuvor Geschriebenen eng zusammen. Insbesondere im ländlichen Raum, in jenen Dörfern, wo jeder jeden kennt, entwickeln sich auch in der Politik Gruppendynamiken. Man wird quasi in seinen jeweiligen politischen Kontext hineingeboren und sozialisiert. Die Mitgliedschaft in der Jungen Union ist im Eichsfeld wie in Mülheim-Kärlich quasi so selbstverständlich wie die im Karnevalsverein, der Kirchengemeinde oder dem Fußballverein. Isso. Eine homogene Gruppe, in der man sich kennt und gemeinsam auf „die da draußen“ und „die da oben“ schimpfen kann.
Als Dauernörgler und ewiger Besserwisser dem Rest permanent mahnend ins Gewissen zu reden, ständig überall anzuecken – das kann und mag niemand. Das ist mit Blick auf die eigenen psychologischen Ressourcen nicht durchzuhalten.
Im Film: „Die Brücke von Arnheim“ wird der polnische General Sosabowski mit den Worten zitiert: „Schauen Sie – ich bin Pole. Manche Menschen halten mich für klug. Wenn das stimmt, dann gehöre ich automatisch einer Minderheit an. Und Minderheiten fahren immer besser, wenn sie schweigen.“ Nun, so ähnlich dürfte es mittlerweile in Thüringen (und andernorts) gerade im dörflichen Kontext Menschen gehen, die von der herrschenden Meinung abweichen.
Mit Blick auf meinen persönlichen Erfahrungshintergrund kann ich sagen, dass wir im beschaulichen Landkreis Mayen-Koblenz bereits Mitglieder bei den Grünen haben, die nicht wollen, dass ihre Parteimitgliedschaft publik wird, weil sie Repressalien und Anfeindungen fürchten. Es wäre, so die Befürchtung, im jeweiligen persönlichen Umfeld, Bekanntenkreis, Arbeitsverhältnis, der gesellschaftliche Tod, sich offen bei uns zu engagieren.
Anfangs hielt ich dies für Quatsch. Wenn ich aber sehe, dass die ggw. Halbwertzeit unserer Großplakate im Wahlkampf höchstens 48h beträgt, bevor sie beschmiert, zerrissen oder ganz geklaut werden, wenn ich die verbalen Anfeindungen am Wahlstand höre und wenn dann selbst aus vermeintlich erstmal wenig radikalen Kreisen ein „Hängt die Grünen, solange es noch Bäume gibt“ kommt, dann verstehe ich, warum sich Menschen schwer tun, offen bei uns auf einer Liste zu kandidieren.
Wie muss das aber erst in Thüringen aussehen? Da wird im Netz ganz offen gefeiert, dass bei diesen Wahlen die Grünen endlich „ausradiert“ wurden und Parteifreunde schildern auf Bundesparteitagen regelmässig die Angst, die immer mit dabei ist, wenn man Plakate aufhängt oder Flyer verteilt. Hier ist die gesellschaftliche Ächtung eines abweichenden politischen Engagements längst in Alltagsterror umgeschlagen. Nicht nur verbal.
Ausnahme sind hier die wenigen Städte in Thüringen, soweit man dies nach bisherigem Stand der Auszählungen bewerten kann. Jena, Erfurt, Weimar und etwas weniger ausgeprägt Suhl und Gera sehen noch keine „ausradierten“ Grünen. Die vermeintliche Anonymität der Stadt ermöglicht noch ein Engagement, welches am Status Quo „gemütlichen“ (aber nicht zukunftstauglichen) Wohlfühlblase des „alles soll so bleiben wie es in meiner Wunschvergangenheit war“ rüttelt. Die Kluft zwischen progressiv-divers kosmopolitischer Stadt und dem im (Vor)Gestern verhafteten homogenen ländlichen Raum wird größer.
Was ist zu tun, um die Demokratie vor diesem Absterben an der Basis zu retten?
Das politische Engagement ist zeitaufwendig, erfordert Mühe und Anstrengung, um sich in komplexe Vorgänge einzuarbeiten, bietet meist wenig Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten, hält dafür jede Menge Negativfeedback parat, denn als „Politiker vor Ort“ wird man direkt für das Elend der ganzen Welt verantwortlich gemacht und somit überrascht es kaum, dass auch in den etablierten „Volksparteien“ es immer schwieriger wird, Listen zu füllen oder Kandidat*innen für politische Ehrenämter zu gewinnen.
Ich gestehe – ich habe nur wenige, unzulängliche Antwortansätze hierzu parat.
Zum einen müssten Länder und Bund den Kommunen mehr Luft zum Atmen und Gestalten überlassen. Ja, auch auf die Gefahr hin, dass wünschenswerte Vorhaben der übergeordneten Ebenen am Widerstand der Bürger vor Ort scheitern. Oder man schafft die unteren kommunalen Ebenen, deren Gestaltungsspielraum aus meiner Wahrnehmung eh gegen Null geht, gleich ganz ab. Dies würde allerdings die Kluft zwischen Bürgern und „der Politik“ nur vergrößern.
Ferner braucht es auch für die Kommunalpolitik eine Entbürokratisierung. Ja, die Welt ist komplex und die Herausforderungen, vor die sie uns stellt, sind es auch. Aber auf den unteren Entscheidungsebenen kann von Ehrenamtlern nicht erwartet werden, all diese Komplexität zu durchdringen. Daher sollte im Einklang mit der Forderung nach mehr Gestaltungsmöglichkeiten für die kommunale Ebene die bürokratischen Zusatzauflagen für diese reduziert werden.
Dann braucht es ein realistisches Erwartungsmanagement der Kommunalpolitik gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Politiker, die den falschen Eindruck vermitteln, dass sie als Stadtratsmitglied oder Landrat das Elend der Welt beseitigen könnten (inklusive des Gegenwindes beim Radfahren) sind da nicht hilfreich. Dieser Versuchung gilt es zu wiederstehen. Politiker auf kommunaler Ebene sind Sprachrohr aber auch Seismograph des „politischen Systems“ gegenüber den Bürgern und sollten sich beider Rollen bewusst sein und diesen gerecht zu werden bemühen. Es wird sowohl der „Kümmerer“ und „Sorgenbriefkasten“ für die Belange der Bürger*innen benötigt als Typ, wie auch die „Erklärer*in“ und „Vermittler*in“ von Politik gegenüber den Menschen.
Und es braucht Mut. Es braucht Mut, für die Dinge und Werte, die man für richtig hält, einzustehen, rauszugehen und diese zu erklären. Es braucht die Rückkehr aller Beteiligten zu den Regeln eines fairen Umgangs und Diskurses miteinander. Wir müssen die Diskursfähigkeit und -bereitschaft zurückfinden. Zumindest im demokratischen Spektrum sollten Auseinandersetzungen nicht nach einem Freund-Feind / Gewinnen-Verlieren-Schema geführt werden. Dies führt in einen Eskalationswettlauf, den am Ende alle verlieren werden. Alle, außer denen, die von Demokratie und Diskurs ohnehin nichts halten.
Wir hatten uns ja schon ein paar Mal darüber unterhalten. Meines Erachtens ein weiterer wichtiger Punkt: Wie funktioniert Kommunal-, Landes- und Bundespolitik als Thema in der Schule. Ich durfte das Lernen, war aber ein Wahlfach und damit vor allem die abgegriffen, die sich dafür interessieren.