Luxusprobleme
Immer wieder hört man in letzter Zeit diese Feststellung: Etwas sei ein „Luxusproblem“. Gleichberechtigung der Frau? Luxusproblem! Gendern von Sprache? Luxusproblem! Gleiche Rechte für die LGBTQI-Community? Luxusproblem! Armut als Hartz-IV-Empfänger? Luxusproblem! Was aber genau steckt hinter dieser Klassifizierung eines Problems als „Luxus“?
Luxus ist dem Wortursprung nach verwandt mit „Verschwendung“; die
„Luxuria“ gilt im Christentum als eine der 7 Todsünden. Dies korrespondiert mit
der landläufigen Bewertung von Luxus als etwas Negativem, bestenfalls etwas Überflüssigem.
Der Duden und einschlägige Erklärwerke verweisen zum Thema „Luxusproblem“ auf Probleme,
die aus einem Überfluss heraus resultieren. Ein Fußballtrainer muss sich
entscheiden, welchen seiner überbezahlten Weltstars er aufstellt bzw. wen er
auf der Bank sitzen lässt, der hochbezahlte Bankmanager muss sich entscheiden,
ob er mit dem Ferrari, dem Bentley oder doch lieber dem Bugatti zur Arbeit
fährt oder aus Zeitgründen nicht besser den Helikopter nehmen soll.
Dies trifft jedoch auf die eingangs verwendeten Beispiele eher nicht zu: Bei
den dort aufgezeigten Themen soll somit vielmehr insinuiert werden, dass das
betreffende Problem kein „echtes“ Problem sei, sondern die Wahrnehmung als
Problem ein Luxus – eine Verschwendung von Ressourcen und Zeit darstellen würde
und es wohl doch Dringlicheres zu erledigen gäbe.
Nun, ich denke, dies lohnt eine nähere Betrachtung. Ein Problem
im Alltag besteht meist darin, dass zwischen dem augenblicklichen Ist-Zustand,
dem Sein eines Menschen und dem Zustand, den er oder sie anstrebt, dem Wollen,
ein Missverhältnis besteht. Es entsteht ein menschliches Bedürfnis, welches gegenwärtig
nicht erfüllt ist.
Um die verschiedenen Arten menschlicher Bedürfnisse in ihrer Betrachtung etwas
zu strukturieren, nutzt man oftmals die „Maslow’sche Bedürfnispyramide“. Stark
vereinfacht gesagt stellt diese dar, wie und in welcher Reihenfolge menschliche
Bedürfnisse aufwachsen und aufeinander aufbauen. Zuerst kommen physiologische
Bedürfnisse wie Nahrung, Trinken oder Schlaf. Sobald diese gesichert befriedigt
werden können, widmet sich der Mensch „höheren“ Bedürfnissen und nach deren
Sicherstellung weiter „höheren“. Dies mag ein klein wenig an den „Fischer und
seine Frau“ erinnern. Allerdings ist hierbei ein „höheres“ Bedürfnis mitnichten
gleichzusetzen mit „höherwertig“ oder „dringlicher“, vielmehr sind dies Wünsche
und Ziele, die erst entstehen können, wenn auf der unteren Ebene eine
Bedürfnisbefriedigung sichergestellt ist. Jeder, der nach einer langen
Wanderung im Hochsommer Durst verspürt hat, weiß, wie vor- und eindringlich das
Bedürfnis nach Flüssigkeit andere Wünsche beiseiteschieben kann. Auch
anhaltender Schlafentzug wird das Bedürfnis nach Schlaf sehr unmittelbar in den
Aufmerksamkeitsfokus schieben und Herausforderungen nach sozialer Anerkennung
verdrängen. Studenten in sehr früh am Tag stattfindenden Vorlesungen oder
direkt nach der Mittagspause wissen dies.
Zurück zu jenen „Luxusproblemen“, die offenbar nicht auf ein Übermaß an Auswahlmöglichkeiten zurückzuführen sind. Was für eine Art „Luxusproblem“ sind sie dann? Beziehungsweise: Wie lassen sich diese unter Nutzung des Modells von Maslow kategorisieren? Die eingangs gewählten Beispiele für „Luxusprobleme“ sind allesamt keine Probleme der unteren beiden Stufen. Das Gefühl des Abgehängtseins, des „Außen vor“-Bleibens als relativ betracht Armer in einer Gesellschaft des Überflusses und Reichtums fäält für mich in die Kategorie „Individualbedürfnis“; man strebt nach Achtung, nach Anerkennung, gesellschaftlicher Teilhabe – kurz: Nach all jenen äußeren Faktoren, die man braucht, um so etwas wie ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Auch Fragen der Gleichberechtigung oder von LGBTQI-Menschen fallen nach meiner Einschätzung in diese Kategorie.
Somit stehen diese Bedürfnisse vergleichsweise weit oben in der Maslow’schen Hierarchie. Folglich drängt sich der Verdacht auf, dass mit „Luxusproblem“ hier gemeint sein soll, dass ein konkretes Problem einen „Luxus“ darstelle oder doch zumindest Folge eines Übermaßes auf den unteren Ebenen der Bedürftigkeit sei.
In meinem beruflichen Umfeld, in dem man notwendigerweise recht viel vom Elend dieser Welt zu Gesicht bekommt, ist ein oft gehörtes Argument, dass Menschen anderswo auf diesem Planeten gern unsere „Luxusprobleme“ hätten. Mitunter wird auch das Synonym „First World Problem“ verwendet. Ja, das trifft natürlich zu – die afghanischen Kinder, die mit Sandalen durch den Februarschnee in Kabul laufen, hätten gerne ihre viel grundlegenderen Bedürfnisse befriedigt, um sich dann anschließend anderen Problemen, eben jenen „First World Problems“ widmen zu können. So wie vermutlich 70-80% der ganzen Menschheit sich wünschen würden, die Stufen 1 und 2 der Maslowpyramide unter sich lassen zu können. Nur, was ändert das daran, das wir dies bereits getan haben? Sollen wir in Deutschland, in Europa also zurück in eine Zeit, wo Grundbedürfnisse nicht mehr gesichert für alle erfüllbar waren, wo Hunger, Elend, Krankheiten und Krieg den Alltag bestimmten? Ich glaube, das will niemand. Ich selber jedenfalls bin froh, dass wir einen Zustand erreicht haben, wo für nahezu alle Menschen die elementaren Grundbedürfnisse in einem Ausmaß gedeckt sind, dass wir uns den Stufen 3 und darüberhinaus auf der Maslow’schen Pyramide widmen können.
Sobald aber jene Grundbedürfnisse gedeckt sind, entwickelt der Mensch zusätzliche Wünsche. Auch jene afghanischen Kinder und die 70-80% der Menschheit, die uns um unsere „Luxusprobleme“ beneiden, werden, sobald ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind, vergleichbare „Luxusprobleme“ auf ihre Tagesordnung setzen. Das Gefühl einer grundsätzlichen Bedürfnislosigkeit oder Saturiertheit, Zufriedenheit mit dem status quo ist den meisten Menschen eher wesensfremd und wird meist mit Eremitentum und Askese in Verbindung gebracht. Die gesamte Werbeindustrie und die moderne Konsumgesellschaft fußen ja letzten Endes darauf, dass der Mensch per definitionem ein nie abschließend befriedigtes Geschöpf ist -denken wir an den Fischer und seine Frau- und sich für jedes potentiell neue Angebot auf dem Markt schon ein passendes Bedürfnis wecken lassen wird.
Noch kritischer stehe ich dem Terminus „Luxusprobleme“ gegenüber, wenn ich mir anschaue, wer ihn an welcher Stelle in einem Gespräch verwendet. Regelmäßig sind dies Menschen, die von dem in Rede stehenden Problem nicht betroffen sind, die sich aber zutrauen, jenes als „Luxus“ abzuqualifizieren. Es sind sich als „normal“ definierende Cis-Heteros, die urteilen, dass das Eintreten für Anerkennung von LGBTQI-Rechten ein Luxus sei. Es sind gutverdienende höhere Beamte oder Unternehmer, die den nörgelnden Hartz-IV-lern erklären, dass anderswo Menschen hungern. Es sind die Seilschaften älterer Herren, die in Behörden und Unternehmen die Fäden fest in der Hand halten und den Frauen erklären, dass es ihnen in Deutschland doch im Vergleich zu Saudi-Arabien oder Afghanistan recht gut ginge. Kurzum, oftmals wird das Streben nach Anerkennung und Selbstverwirklichung relativiert, heruntergespielt oder gar delegitimiert durch jene, die noch nie die Erfahrung des Zurückgesetztseins machen mussten. Der Unterdrücker entscheidet, dass der Unterdrückte sich nicht unterdrückt fühlen sollte.
Schmerz und Leid sind stets subjektiv. Der Schmerz, den ich empfinde, wenn ich mir den Arm breche oder mich ein geliebter Mensch verlässt, betrifft mich persönlich und unmittelbar. Zwar kann ich versuchen, ihn anderen Menschen mitzuteilen, jedoch können diese allenfalls anhand eigener Erfahrungen versuchen, sich in meine Situation hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit nennt sich Empathie. Und doch, trotz dieser Fähigkeit wird das konkrete Ausmaß meines Fühlens immer nur mir vollumfänglich bewusst sein.
Und genau an dieser Stelle liegt mein großes Unbehagen mit der dargestellten Lesart des Wortes „Luxusproblem“: Zum einen maßt sich der Sprecher an, für andere beurteilen zu können, ob ihr jeweiliges Anliegen ein „legitimes“ Problem ist oder nicht. Zum anderen ist diese Haltung meines Erachtens nach nicht von Empathie geprägt. Und gerade jene ist es aber, die für ein soziales Lebewesen wie den Menschen unerlässlich ist.
Fazit: Der Begriff „Luxusprobleme“ wird meistens von Menschen benutzt, die vor lauter Luxus keine eigenen Probleme mehr haben, um das Problem ihrer Mitmenschen, sich keinen Luxus leisten zu können, kleinzureden.