Die Wälder von Connemara

Connemara ist ein wunderbar rauer Landstrich im äußersten Westen Irlands. Hügel, die für irische Verhältnisse schon fast Berge genannt zu werden verdienen, Moore, Seen und Heidelandschaften prägen das Bild ebenso wie die zahlreichen Schafe, die zwischen den schier zahllosen Steinen nach Gräsern und Kräutern suchen. In dieser wunderbaren Einöde verbrachten wir dieses Jahr unseren Sommerurlaub und nahmen die ca. 1.300mm Jahresniederschlag billigend in Kauf. Zum Vergleich: Dies ist gut das Doppelte wie in Berlin in einem Jahr an Regen fällt. Wer je dort in Connemara war, wird sich bei der Überschrift dieses Artikels fragen, ob ich vielleicht ein oder zwei alkoholische Getränke mit dem Namen der Region zu viel getrunken haben könnte. Oder, ob ich an jenen Witz dachte, in welchem sich ein Mann als Holzfäller bewirbt und auf die Frage, wo er denn vorher gearbeitet habe, mit „In der Sahara“ antwortet. Als dann der Hinweis folgt, dass es dort doch gar keine Bäume gebe, kommt der selbstbewusste Hinweis: „Nicht mehr, nicht mehr!“ Und jener zweite Ansatz liegt gar nicht mal so weit daneben. Um sich mit der Naturgeschichte Connemaras vertraut zu machen, ist ein Besuch im Connemara National Park in der Nähe von Letterfrack nahezu Pflicht. Und dort stieß ich auf etwas, das mich nachdenklich stimmte.

Connemara war nicht immer jene gerade beschriebene Landschaft, für die es heute bekannt und berühmt ist. Vor ungefähr 5-6.000 Jahren fingen unsere Vorfahren an, auch diese Gegend zu besiedeln. Zu jener Zeit war der Westen Irlands noch stark bewaldet. Dichte Birken- und Kiefernwälder und nicht Heide und Moore bestimmten das Bild. Erst mit der Ankunft der Menschen und ihrer Tätigkeit als Wanderbauern fing die Landschaft an sich zu verändern. Der Mensch rodete stückweise die Wälder, um Ackerland zu gewinnen. Doch dort, wo die Bäume verschwanden, konnten der von See herkommende Wind und der Regen, der wie ich bestätigen kann, wirklich zum Alltag gehört, voll und ganz und vor allem ungehindert ihr Werk verrichten. Der eben neu gewonnene Ackerboden blieb nur kurze Zeit nutzbar; Nährstoffe wurden ausgespült, Erosion setzte ein und vor allem fing der Boden an zu versumpfen. Immer weitere und neuere Gebiete mussten unsere Vorfahren sich erschließen, um dem Boden ihre Nahrung abzuringen. Und somit fielen immer weitere Gebiete Wind und Wetter und der Erosion anheim. Bereits zur Zeit der Wikingereinfälle im 9. und 10. Jahrhundert hatte sich das heutige Landschaftsbild Connemaras herausgebildet. Die oft gepriesene natürliche, raue Schönheit Connemaras, seine karge Landschaft – sie sind in Wahrheit also menschengemacht.

Typische Landschaft in Connemara

Damit gleicht Connemara anderen Landstrichen und Regionen unseres Planeten. Es gibt etliche Beispiele dafür, dass der Mensch dort, wo er ankam, sogleich anfing seine Umgebung zu verändern. Dies geschah mitunter bewusst, um Flächen für die Landwirtschaft nutzbar zu machen, mitunter erfolgte dies auch unbewusst. Nordafrika wurde in weiten Teilen ebenso für den Bau einer Flotte in der Antike entwaldet, wie dies auf Seiten der europäischen Gegenküste in Italien geschah. Die punischen Kriege waren somit nicht nur Auseinandersetzungen Roms mit Karthago, sondern auch der Spezies Mensch mit der Natur. Auch die beiden anderen großen Halbinseln Europas im Mittelmeer haben ihrer Wälder in Flotten verwandelt: Griechenland, um in der Antike noch vor Rom das Mittelmeer zu beherrschen; Spanien, um an der Wende von Mittelalter zur Neuzeit eine Armada gegen England zu bauen und um sich kurz darauf durch den massenhaften Import von Gold und Silber aus der „Neuen Welt“ die eigene Wirtschaft zu ruinieren. Und in allen der genannten Gegenden benötigte man zudem landwirtschaftliche Nutzflächen, sei es für Oliven, Getreide oder als Weideland.

In der Literatur wird häufig als „Musterbeispiel“ für den ökologischen Kollaps eines Systems, dem alsbald der kulturelle Zusammenbruch folgt, auf die Osterinsel, Rapa Nui, verwiesen. Ungefähr gegen 800 erreichten die ersten Polynesier die Insel. Sie begannen, die Wälder zu roden, um Ackerland zu gewinnen. Auch Boote mussten gebaut und die riesigen Steinbrocken für die Moai-Figuren transportiert werden. Um ca. 1600 schließlich, so schätzt man, wurde der letzte Baum auf Rapa Nui gefällt. Was muss dies für ein Gefühl für die Polynesier gewesen sein? Sie waren ja nicht grundsätzlich dumm – auch ihnen muss doch bewusst gewesen sein, dass nach dem Fällen jenes letzten Baumes „Schicht im Schacht“, also Ende ist?! Und dennoch taten sie es. Mit dem Wegfall der Wälder konnten keine neuen Boote gebaut werden. Sobald die bestehenden Boote nicht mehr seetauglich waren, ging somit der Fischfang zurück. Der Ackerbau litt unter zunehmender Erosion, da keine Bäume mehr da waren, deren Wurzeln den Boden zusammenhielten oder welche Schutz vor dem Wind boten. Die Nahrungsquellen gingen drastisch zurück. Ein „Herunter“ von der Insel gab es auch nicht mehr. Die Gesellschaft auf Rapa Nui und ihre Kultur brachen zusammen.

Nun, die Folgen menschlichen „Geo-Engineerings“ bzw. die „unintended effects“ menschlichen Handelns für die Natur müssen nicht immer so gravierend sein, wie im Beispiel Rapa Nuis. In Spanien, Italien, Nordafrika und auch in Connemara bestehen heute noch funktionierende Gesellschaften. Und gerade Connemara zieht mit seiner „neuen“ Landschaft Menschen in seinen Bann. Dass der Mensch seine Umgebung, seine Umwelt verändert, ist offenkundig mit seinem Wesen verbunden und auch weniger etwas, was mir zu Denken gibt. Mich besorgt im Zusammenhang mit den geschilderten Beispielen vielmehr Folgendes: Die Eingriffe in die Natur durch den Menschen sind quantitativ sowie qualitativ seither deutlich einschneidender geworden.

Lebten zum Zeitpunkt, als der Niedergang auf der Osterinsel um 1600 einsetzte, ca. 500 Mio. Menschen auf diesem Planeten, so sind wir heute bei ca. 7,63 Mrd. Dies ist mehr als das 15fache. Und diese 15mal mehr Menschen müssen essen, wohnen, trinken, leben, arbeiten. Und sie wollen reisen, konsumieren und ein iPhone. Dies muss ganz zwangsläufig einen ganz anderen Umfang an Eingriffen in den Haushalt unseres Planeten bedeuten. Eng mit dem sprunghaften zahlenmäßigen Wachstum der Spezies Mensch verbunden sind die Möglichkeiten unserer Spezies, sich die Ressourcen von Mutter Erde nutzbar zu machen und das Antlitz des Planeten nach eigenem Gutdünken umzugestalten. Genau genommen war es erst der wissenschaftlich-technische Fortschritt, unser immer tiefergreifendes Verständnis für die Abläufe unserer Umwelt und das Herausfinden immer neuerer Tricks, diese Abläufe für uns gewinnbringend zu manipulieren, die das exorbitante Wachstum der menschlichen Gemeinschaft ermöglicht haben. Erst die Entdeckungen von Dampfkraft, Verbrennungsmotoren, Schießpulver und später Dynamit, von Elektrizität und Atomkraft, Agrarwirtschaft und Medizin und zigtausend anderen Dingen machten das Anwachsen und später das Funktionieren unserer modernen, komplexen und extrem arbeitsteiligen Großgesellschaften möglich. Aber damit greifen nicht nur mehr Menschen auf die Ressourcen dieser Erde zu, wir nutzen auch eine größere Vielfalt an Ressourcen, die für unsere Vorfahren noch ohne Belang waren. Und unsere Methoden, uns diese zu erschließen haben immer schwerwiegendere Auswirkungen auf das System „Erde“. Unseren Vorfahren war diese schwarze, schmierige Flüssigkeit, die unter Umständen sogar brennen konnte, zwar in exotischen Kriegsmaschinen eine Verwendung wert, einen sonstigen großen Nutzen fanden sie im „Steinöl“ jedoch nicht. Heute sind wir bereits, ganze lokale Ökosysteme in ihrem Bestand zu gefährden, weil die Weltwirtschaft von der Droge „Erdöl“ abhängt.

Globale Bevölkerungsentwicklung (wikipedia)

In Folge unserer gewachsenen Möglichkeiten, aber auch unseres enorm angewachsenen Bedarfes verändern wir Menschen unsere Umwelt deutlich schneller und umfassender, als dies unseren Vorfahren möglich war. Die „Umgestaltung“ Rapa Nuis dauerte gut 800 Jahre. In Connemara darf man getrost eine Zeitspanne von 2500-3000 Jahren für die Umwandlung einer Waldlandschaft in die heutige Karst-, Heide- und Moorlandschaft veranschlagen. All dies ist quasi Nichts, wenn man es vergleicht mit dem Bau gewaltiger Staudämme wie des Hoover-Damms, des Assuan-Staudamms oder des Drei-Schluchten-Damms in China, die in wenigen Jahren vollendet werden. Dies ist auch Nichts im Vergleich zu der Geschwindigkeit, mit der heute Wälder gerodet werden und ganze Regionen von Menschenhand landschaftlich umgestaltet werden. In den 1950er Jahren beschloss die Sowjetunion, den Wasserüberfluss Sibiriens, der u.a. in den beiden Flüssen Amu-Darja und Syr-Darja gen Westen abströmte und dort den viertgrößten Binnensee der Erde, den Aralsee speiste, zu nutzen, um in Zentralasien Baumwollplantagen zu bewässern. Das Ergebnis großartiger menschlicher Ingenieurskunst und Anstrengungen waren erhebliche Einnahmen aus der Baumwollherstellung sowie ein nahezu vollständiges Verschwinden des Sees innerhalb von nur 50 Jahren. Das ist ein Sechzehntel jener Zeit, welche die Polynesier für die Entwaldung der Osterinsel benötigten. Die Folgen zu schildern, die dies für Tiere, aber auch den Menschen in der Umgebung des ehemaligen Aralsees hatte, würde hier den Rahmen sprengen; sie sind jedoch mit „verheerend“ einigermaßen zutreffen beschrieben.

Am Grunde des ehemaligen Aralsees

Ein kritischer Punkt ist: Die Veränderungen, denen ökologische Systeme heute aufgrund menschlicher Aktivität ausgesetzt sind, haben eine erheblich andere Qualität, Quantität und Zeitskalen als frühere Veränderungen und somit weniger Zeit, sich diesen anzupassen. Nun ist jedoch einer der wesentlichsten Mechanismen, mit denen die Natur auf veränderte Umweltbedingungen reagiert, die von Charles Darwin beschriebene „Zuchtwahl“ – die Evolution. Diese umschreibt im Wesentlichen die höheren Überlebenschancen der besser an die Umwelt angepassten bzw. anpassungsfähigen Individuen einer Art bzw. der Arten an sich. Da jedoch die Anpassungsfähigkeit einzelner Individuen genetisch auf einen bestimmten Korridor an Möglichkeiten beschränkt ist, hängt die Überlebensfähigkeit einer kompletten Art von der Schnelligkeit der Generationenfolge und der möglichen Varianz zwischen den Generationen ab. Oder kurz gesagt: Lebewesen mit langem Leben und entsprechend langsamer Generationenfolge sowie mit einer geringen Varianz bei der Weitergabe von Erbgut werden als erste verschwinden, wenn die Umweltumstände sich so sehr verändern, dass ein Weiterleben wie zuvor nicht möglich ist. Natürlich können Arten auch „aus- bzw. abwandern“; allein, die Anzahl der natürlichen Lebensräume, der Refugien, die wir Menschen unseren Mitgeschöpfen überlassen, schwindet mit unserem immer totaler werdenden Anspruch auf alle Ressourcen unseres Heimatplaneten. Am Ende verschwinden somit ganze Ökosysteme und mit ihnen zahllose Arten.

Der jüngste Weltartenschutzbericht nennt schier unglaubliche Zahlen an Tier- und Pflanzenarten, die einfach nicht mit der Geschwindigkeit, mit der wir den Planeten bewusst und unbewusst in unserem Sinne verändern, Schritt halten können. Wir haben einen gewaltigen „Faunenschnitt“ auf diesem Planeten ausgelöst. Bedurfte es erdgeschichtlich eines Asteroiden oder des Ausbruchs eines „Megavulkans“ (oder gar der Kombination beider), um ein vergleichbares Massenaussterben herbeizuführen, so ist heute der triumphale Sieg einer Spezies über alle anderen die Ursache des globalen Aussterbens. „Macht die Welt Euch Untertan!“ war lange das religiös ummantelte Credo des menschlichen Herrschafts- und Gestaltungsanspruches über die Natur. Und solang unsere zahlenmäßige wie technologische Überlegenheit unseren Mitgeschöpfen gegenüber weniger total war, ergaben sich aus diesem Ansatz im globalen Maßstab keine größeren Probleme. Fälle wie Rapa Nui blieben lokale Ausnahmen und Einzelfälle. Mittlerweile jedoch hat unsere unvergleichliche Erfolgsgeschichte als Spezies uns in eine Situation gebracht, in welcher gleichsam der gesamte Planet zu unserer Osterinsel geschrumpft ist. Auch dies könnte eine Interpretation des Wortes „Globalisierung“ sein.

Ein letzter besorgniserregender Gedanke aus jenen Beispielen menschengemachten Umgestaltens seiner Umwelt. Selbst wenn eine Gesellschaft anfängt zu erkennen, dass ihr Handeln nicht folgenlos für die Umgebung ist und dass jene Folgen langfristig schädlich sind und den Nutzen des Handelns deutlich übersteigen werden, erfolgt ein Umsteuern entweder gar nicht oder zu spät. Wie bereits gesagt – den Einwohnern der Osterinsel war bewusst, dass jener Baum, den sie fällten, der letzte sein würde, dass es danach kein Holz mehr für ein Feuer oder den Bau neuer Boote geben würde. Und dennoch wurde dieser Baum gefällt. Dummheit? Blindheit für die Folgen des eigenen Handelns? Oder unabweisbare Sachzwänge? Alternativlosigkeit? Gab es dringlichere Bedürfnisse, die mit dem Holz jenes Baumes befriedigt werden mussten? Galt es, Fruchtbarkeitsgötter in einem letzten verzweifelten Gebet darum zu ersuchen, aus den Resten jenes Baumes neue Wälder entstehen zu lassen?
Ich fürchte, diese Fragen können wir ex post kaum sinnvoll beantworten. Aber mehr noch fürchte ich, dass wir diese Fragen in einer nicht allzu fernen Zukunft unseren Kindern oder Enkeln in ähnlicher Form werden beantworten müssen.  

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