Piano Man

Billy Joel – Piano Man

New Orleans 2001

Es war ein schönes Wochenende für uns in New Orleans. Wir, das waren mein Kumpel Florian, der an der Uni mein Nachbar war, zwei Freunde von uns, die in El Paso, Texas zu einem Lehrgang waren und ich. Wie wir im Oktober 2001 nach New Orleans kamen, war an sich bereits eine Geschichte für sich: Wir studierten beide an der Bundeswehr-Uni in Hamburg seit 1999 Politik. Im Frühjahr 2001 wurden dann wie üblich durch die militärische Führung der Uni Bonbons in Form von Auslandstrimestern an verdiente Studenten vergeben. Bis zu diesem Jahr bestand für angehende Politologen jedoch keine Möglichkeit, einen solchen Auslandsaufenthalt zu absolvieren, während alle anderen Fachbereiche derartige Programme bereits seit Jahren etabliert hatten. Der persönliche Referent unseres Uni-Präsidenten war jedoch sehr auf derartige Austauschprogramme erpicht und hatte zudem einen recht guten persönlichen Draht zu einem Dozenten des Virginia Military Institute in Lexington, Virginia. Um seine Idee Gestalt werden zu lassen, beauftragte er meinen militärischen Chef, einen jungen Hauptmann, in seinem Bereich nach geeigneten Kandidaten für ein solches Projekt Ausschau zu halten. Kriterien für die Auswahl hierfür waren natürlich Englischkenntnisse, ein bis dahin fehlerfreier Studienablauf und nicht zuletzt eine gewisse Flexibilität und Spontaneität, schließlich galt es Neuland zu betreten.

Einen Kandidaten hatte mein Chef auch direkt identifiziert: Einen dieser stromlinienförmigen Musteroffiziere; konservativ, engagiert, strebsam, ohne größere Kanten und Angriffsflächen – kurzum ein Typ, wie ihn grundsätzlich ungeheuer mochte. Aus welchen Gründen auch immer jedoch, im Gespräch mit meinem Chef schlug dieser Typ dann ausgerechnet mich als zweiten Mann vor. Es fiel mir nicht unbedingt leicht, dieses Angebot anzunehmen, schließlich stecke ich seit Anfang des Jahres in einer für mich sehr ernsten und engen Beziehung zu einer wundervollen Frau. Die Aussicht, dieses kurz zuvor gefundene Glück für 4 Monate aufgeben zu müssen, begeisterte mich wenig. Letztlich auch nach langen Gesprächen mit der Betroffenen war ich aber dann bereit, dieses Wagnis anzugehen.

Gut zwei Wochen später rief mein Chef mich zu sich, um mir mitzuteilen, dass ich nunmehr in der Situation wäre, mir einen Begleiter aussuchen zu dürfen, da seine erste Wahl aus recht fadenscheinigen Gründen seine Bereitschaft  für diesen Auslandstrip zurückgezogen hatte. Ohne kurz überlegen zu müssen, brachte ich meinen Nachbarn und guten Kumpel Florian ins Spiel. Wenn ich gewusst hätte, was in den vier Monaten USA alles auf uns zukommen würde, wenn ich gewusst hätte, dass wir uns vier Monate eine miese kleine Kaschemme in einem BOQ eines hinterwäldlerischen Kadettencolleges teilen würden müssen, wenn ich gewusst hätte, dass wir uns darüber kräftig zerstreiten werden würden, ich hätt´s ihm nie im Leben angeboten. Aber hinterher ist man eh schlauer. Also wurde Flo als zweiter Mann akzeptiert und wir flogen gen USA.

Nach vielen anstrengenden und zum Teil sehr belastenden Wochen in den Staaten an einer selbst für erfahrene Militärs wie uns befremdlichen Einrichtung stand schließlich Thanksgiving vor der Tür. Wir hatten die fremde Kultur (sofern man in der finstersten amerikanischen Provinz, an einer Kadettenanstalt, die nach „full metal jacket“-Methoden arbeitet überhaupt von „Kultur“ sprechen kann), die Trennung von zu Hause und unseren Lieben, vor allem unseren Freundinnen, ja, wir hatten auch den 11.09.2001 und all seine Folgen soweit überstanden. Freilich trugen wir beide bereit einige Blessuren auf unseren Seelen mit uns, insbesondere ich, der ich kurz zuvor noch meine Freundin für zwei Wochen zu einem ausgesprochen kostspieligen und nicht immer problemlosen Besuch bei mir in die Staaten eingeladen hatte[1].

Thanksgiving bedeutete für uns, dass wir endlich mehr als nur zwei Tage am Stück frei hatten und somit Amerika oder doch zumindest einen Teil davon in näheren Augenschein nehmen konnten. Unsere bisherigen Ausflüge, stets auf ein recht kurzes Wochenende beschränkt, hatten uns mal nach New York, Gettysburgh, öfter nach Washington und in die nähere Umgebung gebracht. Aus dem „bible belt“, jener erzreligiösen und konservativen Ostküste, jedoch waren wir nie wirklich herausgekommen, vom liberalen, weltoffenen und kulturell weltweit den Takt vorgebenden Amerika wenig kennen gelernt. Selbst The Big Apple“, die Welthauptstadt New York, hatte in punkto Weltoffenheit enttäuscht.

Unsere Wahl eines Reisezieles wurde vor allem auch von dem glücklichen Zufall bestimmt, dass ein gemeinsamer Bekannter aus Hamburg inzwischen zu einem längeren Lehrgang in El Paso, Texas kommandiert worden war. Also war ein Pflichtpunkt, Thanksgiving in irgendeiner Form gemeinsam zu verbringen, bekannte, vertraute Deutsche Gesichter in der Ferne zu erblicken. Beim Betrachten der Landkarte kamen als Schnittpunkte zwischen El Paso und Lexington nicht wirklich viele interessante Punkte in die engere Auswahl. Ohne genau zu wissen, warum, entschieden wir uns gemeinsam für New Orleans, ohne Genaueres über diese Stadt vorher gewusst zu haben. So kamen ir dn Ende Oktober nach einer extrem langen Autofahrt dort alle zusammen. Flo und ich hatten gut 15 Stunden gebraucht, unserer Freund mit seinem Begleiter knapp 18, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen.

Und so zogen wir nun also durch das French Quarter. Die Strapazen der Reise und die Entbehrungen der letzten Tage und Wochen waren schnell hinter uns; nicht durch die viel zu kurze Nacht im Hotel, sondern allein durch das gemeinsame Wiedersehen, die vertrauten Gesichter und ein ungeheures Gefühl der Freiheit, wie wir es vorher in den USA so gut wie nie verspürt hatten. New Orleans war einfach anders. Dass die Uhren in den Staaten irgendwie anders gingen als in Deutschland hatten wir schon verinnerlicht. Die strenge Durchorganisiertheit, der Stress, das Gedränge und die Hektik Deutschlands scheinen den Amerikanern fremd. Diese fehlenden Eigenschaften jedoch kompensierten sie, zumindest in unserem näherem Bekanntenkreis, durch moralische Strenge, Obrigkeitsglauben, Unflexibilität und eine nur mühsam unter der Fassade versteckten latenten Angst vor allem Andersartigem.

Wie gesagt, New Orleans war anders. Hier trafen wir auf pure, ungehemmte Lebenslust. Niemand, der in bigotter Art und Weise peinlich darauf bedacht war, einen Schein, eine Maske zu wahren. Hier war man einfach, was man war. Hier lebte man und ließ leben. Freilich waren wir uns auch bewusst, dass diese Lebensfreude die spezielle Maske dieser Stadt war, ihr Aushängeschild, ihr Etikett, ihr Ruf, den es zu wahren galt. Doch wir scherten uns nicht darum. Wir genossen einfach. The easy living. Das Wiedersehen. Und das Ausblenden der uns eben noch so bedrückenden Eindrücke.

Nach einem reichlich späten Mittagessen mit viel zu vielen Kalorien in einem der besten und möglicherweise auch teuersten Steakhäuser der Stadt und einem Kaffee in der goldenen Oktoberspätnachmittagssonne gehörte das French Quarter nun also uns. Allein dieses Essen war herausragend: In der zweiten Etage eines französischen Kolonialbaus auf einer Terrasse, die einmal um das ganze Gebäude lief, in der Sonne sitzend genossen wir unsere T-Bone Steaks mit Grillkartoffeln. Auch der anschließende Kaffee hob sich positiv von der sonst in Amerika servierten gefärbten Brühe ab. Offensichtlich war nicht nur architektonisch das French Quarter dem alten Europa entlehnt.

Mit gut gefüllten Magen und voller Euphorie streiften wir nun durch New Orleans. Langsam begann die Sonne rotgolden zu versinken und alles um uns herum in ein warmes, Gemütlichkeit ausstrahlendes Licht zu tauchen. Eingebettet in die üblichen Touristen und Vergnügungssüchtigen führten uns unsere ersten Schritte in die „Big Bad Wolf Bar“; ein Platz, wo der äußerlich prüde und bigotte Amerikaner seinen inneren Schweinigel so richtig ausleben konnte: Leichtbekleidete Damen, die ebenso leicht zugänglich waren, ohrenbetäubende Klänge diverser R´n´B-Sternchen sowie alkoholische Getränke in Hülle und Fülle machten diese Bar zu einem Platz, an dem wir uns sofort wohlfühlten. Einzig die Umgebung der Bar im French Quarter, die Einrichtung im Wild West Stil wollte nicht so ganz zum mehrheitlich farbigen Klientel, der Musik und dem Ghetto-Gangsta-Image passen, welches hier verkauft werden sollte. Doch wir störten uns wenig an dieser Nebensächlichkeit. Ich hatte für mich persönlich eh´ beschlossen, meine üblichen philosophischen, grundlegenden Grübeleien und Gedanken für diese Tage in New Orleans über Bord zu werfen und einfach mal abzuschalten, mit meinen Freunden zu entspannen. Viele Gelegenheiten hierfür würden wir in den Staaten nicht mehr bekommen. Einfach nicht mehr an all die anderen Probleme denken: Studium, „nine eleven“, Katrin. Außerdem durfte im „Wolf“ auch geraucht werden, eine Seltenheit in den USA, wovon die Kundschaft und bald auch wir ausgiebig Gebrauch machten.

Nach einigen Getränken, selbstverständlich alkoholischen, und erfolglos abgebrochenen Versuchen, eine wie auch immer geartete Form der Kommunikation zu führen, verstummte plötzlich die Musik und ein reichlich klischeehaft geratener farbiger Moderator im MTV-hip-hop-outfit kündigte den bevorstehenden „Miss Wet T-shirt contest“ an. Eine Ansage, nach der wir spontan beschlossen, unseren Aufenthalt im „Wolf“ weiter auszudehnen. Nach und nach kamen drei, vier Mädels aus dem Publikum auf die improvisierte Bühne. Zwei davon hatte ich mit meinem mir scheinbar angeborenem Skeptizismus direkt in Verdacht, von der Lokalleitung in diesen Wettbewerb geschleust worden zu sein, um dem Publikum etwas für´s Auge zu bieten; zu perfekt sahen diese beiden aus. Zu sehr hoben sie sich in puncto Aussehen von den üblichen Durchschnittsamerikanerinnen ab, die ich bisher zu Gesicht bekommen hatte. Aber selbst wenn man die Scharade durchschaut, selbst wenn man im Kino weiss, dass es sich um einen Film handelt – ein guter Film versteht es die Illusion aufrecht zu erhalten, weiter in seinen Bann zu ziehen. So auch hier. Begeistert und fasziniert verfolgten wir das Schauspiel, welches sich uns bot. Der Reihe nach präsentierten die mittlerweile fünf Bewerberinnen sich auf der Bühne, bewegten sich mehr oder weniger gekonnt zur Musik, wobei der Ghetto-Gangsta-Moderator eimerweise Wasser über ihre Oberteile goss. Schließlich setzte, angetrieben von den beiden vermeintlichen Professionellen die Eskalationsspirale ein: Erst fielen die nassen T-shirts, bald darauf die BH´s. Spätestens jetzt wurden die Unterschiede zwischen den Beiden einerseits und den zufällig und durch zu viele Cocktails zu diesem Wettbewerb angestachelten Freiwilligen andererseits deutlich. Zwei perfekte, wie von Hollywood geformte Körper mit aufreizenden Tätowierungen hoben sich deutlich vom knapp über dem Durchschnitt liegenden Körper ab. Da hingen keine Brüste, da gab es keine Andeutung von Fettwülsten an den Hüften, da waren Brustwarzen gepierct, kurzum, die Scharade wurde ein klein wenig durchsichtiger, jedoch nicht weniger aufreizend. Unsere Stimmung erreichte, wie die der aufgeheizten Menge, ganz neue Höhen.

Mit mir geschah in jenem Moment genau das, was immer mit mir in derartigen Situationen passierte: Ich fing an zu denken, zu grübeln, wurde Opfer dieses kleinen Denkers hinten in meinem Kopf, der immer, wenn´s lustig wird, sich zu Wort meldet und den ganzen Spaß mit seinen skeptisch-sarkastischen Bemerkungen zunichte macht. Zum einen bewunderte und begehrte ich diese perfekten Wesen und die geschickten Bewegungen, die sie mit ihren makellosen Körpern vollführten. Zum anderen jedoch wird mir bei einem solchen Anblick immer meine eigene Unzulänglichkeit gewahr. Die unästhetischen Haare auf Brust, Bauch, Beinen und Händen, die viel zu große und schiefe Nase, die Fettpolster auf den Hüften (insbesondere nach 2 Monaten USA und der Fast-Food-Diät dort…). Schlimmer noch, nicht nur meine Defizite wurden mir ins Gedächtnis gerufen, auch die meiner eigenen Freundin. Seltsam, dieser Teil war noch schmerzlicher als der erste. An mich und meine Hässlichkeiten hatte ich mich gewöhnt; die ihren waren neu und wurden subjektiv noch immer von der rosaroten Brille des Verliebtseins und des Vermissens überdeckt, auch wenn ich objektiv wusste, dass sie lange nicht so schlank war, wie die zwei da oben, nicht so herrlich gebräunt, ihr Körper nicht so straff und fest. Auch trug sie weder Tätowierungen noch Piercings an irgendwelchen entscheidenden Körperstellen. Dennoch, oder gerade deswegen liebte ich sie. Und mir wurde bewusst, dass Liebe nichts mit puren Äußerlichkeiten zu tun hatte, dass Optik, Outfit und die Oberfläche zwar kurze Zeit ablenken und vergessen lassen können, aber nicht auf Dauer. Liebe und gerade die zu meiner Daheimgebliebenen hatte Tiefgang; dies hier war reine Fassade. Und die Stimme im Hinterkopf fragte: „Was machst Du hier eigentlich?“.

Kurzum, mit einem Schlag war die Euphorie vorbei, dem Höhenrausch folgte wie jedem Rausch ein Kater, der Höhe ein tiefer Fall. Ich konnte das Ende dieses für mich nur noch peinlichen Spektakels kaum abwarten. Was mein Verstand mit dem Durchschauen der Scharade nicht geschafft hatte, meine Gefühle, allen voran meine Sehnsucht nach IHR hatten es geschafft.

Von meinen drei deutschen Begleitern hatte wohl nur Flo mitbekommen, dass sich etwas für mich geändert hatte. Jedenfalls war er sensibel genug, nach dem Ende der Miss-Wahl und natürlich nachdem alle Piercings, ausgenommen Ohrringe, wieder bedeckt waren, mich in meinem Wunsch zu unterstützen, den „Big Bad Wolf“ zu verlassen. Dies fiel auch deswegen einigermaßen leicht, weil die beiden gemeinsam zur Siegerin gekürten „Professionellen“ nach der Siegerehrung, so wie man vermuten konnte, wie vom Erdboden verschwunden waren. Entweder waren sie dabei, irgendeinen gutgebauten Kerl zum Sieger des Abends zu machen oder die Lokalleitung hatte ihre Lockvögel wieder eingefangen. Unsere ebenfalls recht angeheiterten und animierten Freunde aus El Paso konnten also ihren Fantasien, die beiden anzumachen, nicht nachgehen. So oder so, für uns gab es hier nichts mehr wirklich aufregendes zu sehen und ich für meinen Teil wollte auch nichts mehr sehen.

Wir schoben uns durch das allmählich nachlassende Gedränge nach draußen, wo uns zunächst einmal die frische Luft wohltuend in Empfang nahm. Einigermaßen durch die klare Luft ernüchtert, sowohl körperlich wie mental, weg von der johlenden Menge zogen wir schweigsam durch die mittlerweile deutlich weniger gefüllten Gassen in Richtung Bourbon Street. Möglicherweise hatte meine Gefühlslage sich auf die anderen übertragen, vielleicht hingen sich auch ihren eigenen Gedanken nach; wir hatten für den Moment alle erst einmal genug von lauter Musik, von Menschen und Feiern. Irgendwie hatten wir Heimweh, Müdigkeit und alles andere Negative für den kurzen Rausch ekstatisch an die Seite gedrängt, nur um nun deren umso vehementere Rückkehr erfahren zu müssen.

Am Ende eines Gässchens kamen wir zu einem kleinen, windschiefen, alten Gebäude, von dessen Scheiben ein wohlig-warmes, weiches Licht auf die Strasse fiel. Das Haus schien fast nur aus Holz zu bestehen und war wohl mit Schilf gedeckt. Es besaß kein Obergeschoss. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass es sich offenbar um eine Bar handelte. Leise Unterhaltungen drangen nach außen. Da uns allen der Sinn nach einem Bier stand, diese Bar zudem für eine Unterhaltung unter uns geeignet schien, betraten wir den einzigen flachen Raum, aus dem das Haus bestand. Zwei Gegenstände machten ein Bewegen in dieser Bar schwierig, ja fast unmöglich: Der große, quadratische Tresen der wie eine Festung im hinteren Bereich des Raumes stand und ein alter Konzertflügel, der nahezu den ganzen Bereich zwischen Eingang und Tresen in Beschlag nahm. Zudem kam das einzige Licht in der Bar von den Kerzen, die auf den runden, niedrigen Holztischen und dem Flügel standen sowie von einer Öllampe, die am Tresen von der Decke hing. Uns gelang es nicht, einen der wenigen Korbstühle zu ergattern, die um die Tische standen. Die Bar war deutlich besser besucht, als der moderate Geräuschpegel es hätte vermuten lassen. Im warmen, flackernden Licht konnten wir erkennen, dass knapp 50-60 Leute sich auf die wenigen Stühle und Barhocker verteilten und in den Ecken beisammen standen. Wir suchten uns einen Platz am Tresen, nahe dem Klavier und bestellten uns ein paar Bier. Eine wirkliche Unterhaltung zwischen uns wollte nicht so recht einsetzen. Das lauwarme Flaschenbier, das wir auf unsere Bestellung hin erhielten, besserte die Situation kaum. Auf Nachfragen, weshalb das Bier sich in diesem erbarmungswürdigen Zustand befand teilte uns der Barkeeper mit einer gehörigen Portion Stolz mit, dass dies in seiner Bar so sein müsse, schließlich sei dies die älteste Bar der Stadt und man lege großen Wert darauf, dass man hier ohne Strom und fließend Wasser auskäme. Aus Respekt vor der Tradition versuchten wir also unser Bier zu genießen. Zudem waren wir eh in einer Gemütslage, wo wir für Nostalgie, Melancholie und Tradition recht empfänglich waren. Um das Fehlen der Elektrizität zu ersetzten, gab es also nur Kerzen, lauwarmes Flaschenbier und handgemachte Livemusik. Letztere setzte nun gerade ein, da sich ein verwitterter, uralter Farbiger an den Flügel setzte und zu spielen anfing. Er gab einen Klassiker nach dem nächsten zum Besten: Ol´ man river, House of the rising sun, cotton field, immer wieder von Ansagen und Plaudereien mit dem Publikum unterbrochen. Nach einer längeren Pause, ein mühevoller Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es kurz vor eins war, spielte er ein paar Takte an, nur um sofort von allgemeinem Beifallsbekundungen unterbrochen zu werden. Mir selber lief ein wohlig-warmer Schauer durch den Körper; diese Melodie kannte ich: „Piano Man“. Der Klassiker von Billy Joel. Die perfekte musikalische Beschreibung unserer Situation; nun ja: fast perfekt: It´s nine o´clock on a Saturday. Das stimmte ja so nicht ganz. Aber dafür der Rest. Das Publikum bestand aus den für diesen Ort üblichen Verdächtigen: Touristen, in paar Stammkunden, Melancholikern, gescheiterten Existenzen und geplatzten Träumen. Zu letzteren gehörten wir, denn insgesamt war ja auch für uns der Traum „Amerika“ geplatzt. The home of the free and the land of the brave hatte uns enttäuscht. Und genau die Stimmung fing dieses Lied wie kein anderes in jener Situation ein. Menschen und ihre Illusionen am Samstagabend in der Bar. „Son can you play me a memory ? I´m not really sure how it goes. It´s sad and it´s sweet and I knew it complete when I wore a yonger man´s clothes.” It´s sad and it´s sweet – es ist traurig und süß. Ja ! Genau diese Art Gefühl hatte mich erwischt. Bittersüßer Schmerz, Heimweh, Enttäuschung, Einsamkeit und zugleich aber das Gefühl, einzigartig, besonders zu sein. Es war auf eine seltsam verwirrende Weise ein Moment, den man festhalten wollte, der sich tief im Herz verewigt. „Yes, they´re sharing a drink they call loneliness, but it´s better than drinking alone.” Eine Parallele zu Saint-Exupéry: Man ist auch unter den Menschen einsam. Stimmt. Da saß ich mit guten Freunden inmitten einer vollen Bar und war dennoch einsam, vereinzelt. Doch schien mir, dass es ihnen allen um mich herum ebenso ging: Wir genossen unsere Einsamkeit gleich dem Bier und der Musik gemeinsam. Eine Träne stahl sich in mein links Auge. Blöde Amerikaner, in Europa hätte ich das auf den Zigarettenqualm schieben können, hier ging das nicht, da ja so gut wie überall Rauchverbot bestand. „La la la dee dee da, la la dee dee da da da“, sang ich mit, um zu überspielen, wie sehr ich mitgenommen war. Irgendwie war ich damit nicht der einzige – alle um mich herum sangen mit. Flo und die anderen Deutschen vornweg, offenbar ging es ihnen ähnlich wie mir.

Als das Lied aus war, folgte einer dieser magischen Momente der Stille. Nichts bewegte sich in der Bar. Selbst der Zeiger meiner Uhr schien festgefroren, die Kerzen flackerten für Sekunden nicht. Ehrfurchtsvolles Schweigen ringsum, um diesen Moment nicht zu zerstören. Dann brach gleich einem Damm die Spannung, tosender Applaus, Jubel, Beifallsbekundungen jedwelcher Art. Schulterklopfen für den Mann am Klavier. Wir verließen die Bar. Eine Steigerung wäre für diesen Abend nicht mehr drin gewesen. Jeder von uns wollte diesen Moment soweit wie irgend möglich mitnehmen. So begaben wir uns also schweigend auf den Weg in unser Hotel. Wir hatten genug. Am nächsten Tag gingen wir lediglich noch essen, Kaffee trinken, bevor wir uns dann in den Zweiergrüppchen auf en Heimweg machten.

Die restliche Zeit in den Staaten verging einigermaßen ereignislos aber sehr beschäftigt. Wir brachten mehr oder weniger lustlos und mürrisch unser Studium zu Ende, von Tag zu Tag übellauiger, dünnhäutiger und gereizter. Die baldige Aussicht, unsere Lieben und Geliebten wiederzusehen, vermochte es selten einmal, die Stimmung aufzubessern. Das zunehmend schlechter werdende Wetter tat sein übriges. So also blieb jener Abend in der ältesten Bar von New Orleans eines der wenigen erinnerungswürdigen Glanzlichter dieser Reise. Dies vor allem aber wegen der Magie des Augenblicks, welche der „Piano Man“ von Billy Joel erzeugte. Jedes Mal seitdem, wenn dieses Lied gespielt wird, wandern die Gedanken an jenen Abend zurück. An die Melancholie des Abends und ein wohlbekannter warmer Schauer überkommt mich.


[1] Vgl. Music Story: „It´s raining in Baltimore“

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