Ist Anarchie „grün“?

Dieser Tage konfrontierte mich jemand in einer Diskussion mit der These, „Grün sei auch und vor allem Anarchie“. Ich gebe zu, ich bin in einem ersten Moment geneigt gewesen, dem zuzustimmen, insbesondere mit Blick auf jene Bilder der Anfangstage der Grünen, die durchaus wild, chaotisch und anarchisch waren. Auch die zweite tragende Säule grüner Politik – Bündnis 90 hat ein machtkritisches und machtfeindliches Moment. Wir Menschen in der DDR haben ja am eigenen Leib erfahren, dass und wie sehr Macht und Herrschaft korrumpieren können. Dann jedoch kam ich ins Grübeln. Ist das wirklich so – kann grüne Politik anarchisch sein ober brauchen auch wir Grünen Regeln und eine (gewisse) Ordnung? Hier nun das fragmentarische Ergebnis meines Nachdenkens über diese Frage, nicht mehr als ein paar kurze Thesen.

Ich fang mal an und hole weit aus: Der Mensch ist, das wissen wir eigtl. schon seit der Antike, ein gemeinschaftliches und gesellschaftliches, ein soziales Wesen. Ein „zoon politikon“, wie Aristoteles sagte und auch die Bibel legt dem Herrgott die Worte in den Mund „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“. Der in der Evolutionsgeschichte bislang einzigartige Erfolg der Spezies Mensch liegt genau darin begründet, dass Menschen in Gemeinschaft und Gesellschaft vermochten, immer wieder eine funktionierende und fruchtbare Balance zwischen den Prinzipien „Kooperation“ und „Konkurrenz“ zu schaffen. Arbeitsteilung und die daraus folgende Spezialisierung sind unsere Erfolgsrezepte als Spezies und basieren vor allem auf dem Konzept der Kooperation.

Damit aber jene „Kooperation“ gelingen kann, in einer Natur, die inhärent auf Wettbewerb und Auslese angelegt ist, braucht es Vertrauen untereinander. Damit Vertrauen entstehen und gefestigt werden kann, braucht es Regeln, die eine Kooperation ermöglichen und welche der Konkurrenz und dem Wettbewerb untereinander Grenzen setzen. Vom Anbeginn der Zivilisation an war es das Ziel der Gesetzgebung, Regeln zu setzen, die ein Leben in Gesellschaft erst ermöglichen. Denn ganz gleich, ob man den Menschen im Naturzustand als „gut“ oder „böse“ definiert (beides ist falsch) – diesen hypothetischen Naturzustand hat es nie gegeben. Wo immer es Menschen gab, waren sie bereits bei ihrer Geburt in Gruppen, Gemeinschaften, später in der Historie auch in Gesellschaften eingebunden und sie fanden sich immer mit der Herausforderung konfrontiert im Rahmen dessen, was sie vorgefunden haben eine Balance zwischen Kooperation und Konkurrenz finden zu müssen.

Jenes Verregeln menschlicher Beziehungen in Gesellschaften hat übrigens nichts mit der Beschränkung von Freiheit zu tun. Im Gegenteil – Regeln für das gemeinschaftliche Zusammenleben ermöglichen Freiheit erst. Denn Regeln und Normen setzen im Idealfall der Freiheit Einzelner dort Grenzen, wo diese anfängt, in die Freiheiten anderer einzugreifen. Und diese Tendenz der Ausweitung eigener Freiheiten zu Lasten der Freiheiten anderer ist im Wettbewerb, im Konkurrenzkampf der Natur um Nahrung, Sexualpartner und Ressourcen im Allgemeinen angelegt. Gemeinschaften mussten hier um ihrer eigenen Funktionsfähigkeit Willen einen Riegel vorschieben und die Konkurrenz auf ein konstruktives, erträgliches Maß begrenzen.

In den angesprochenen Konkurrenz- und Verteilungskampf starten jedoch nicht alle Individuen einer Gemeinschaft von Natur aus mit den gleichen Voraussetzungen. Es gibt von Natur aus Große und Kleine, Starke und Schwache, Kluge und weniger Kluge – Menschen mit allen denkbaren Unterschieden. Für die Spezies Mensch (und nicht nur diese) hat es sich jedoch als evolutionärer Vorteil erwiesen, lage- und situationsabhängig auf alle denkbaren Fähigkeiten ihrer Individuen zurückgreifen zu können. Ein möglichst breiter Genpool ist ein Vorteil für das Überleben der Art. Daher dienten alle Verhaltensregeln in Gesellschaften zunächst auch immer dazu, eine gewisse grundlegende Gleichartigkeit und Gleichheit unter den Menschen herzustellen. Dies ist nicht allgemeinen Menschenrechten oder einer moralisch-ethisch begründeten normativen Gleichheit zu verwechseln, diese Entwicklung kam zivilisationsgeschichtlich erst später. Aber von Anbeginn menschlicher Gesetze an, wurde eine grundsätzliche Gleichheit innerhalb einzelner Gruppen von Menschen hergestellt, weil sie für deren Funktionieren notwendig war: Eine Gleichheit vor Gott oder den Göttern, eine Gleichheit als „Christenmensch“, die Gemeinschaft in der „Umma“.

Nur Gleiche können sich auf Augenhöhe begegnen und miteinander kooperieren. Trotz aller faktischen Unterschiede, die es naturbedingt unter ihnen geben mag. Je größer, umfassender, arbeitsteiliger und komplexer nun die menschlichen Gesellschaften wurden, bis hin zu der „einen“, globalisierten Gesellschaft, in der wir mutmaßlich heute leben, desto inklusiver mussten sie werden, desto mehr musste jene grundsätzliche Gleichheit innerhalb einer Gruppe von Menschen auf weitere Gruppen erweitert werden, die zuvor nicht dazu gehörten. Die immer zunehmendere Arbeitsteilung, das Bevölkerungswachstum, die Komplexität der menschlichen Gesellschaften und ihrer Subsysteme potenzierten die Gelegenheiten der Interaktion unter den Menschen und bei allen diesen Interaktionen galt es im Sinne der gesamten Spezies stets, die Balance zwischen Kooperation und Konkurrenz immer wieder neu zu justieren.

Dass ein treibender Motor für die engere Kooperation innerhalb einer Gesellschaft dabei oft deren Konflikt, deren Konkurrenz zu anderen Gesellschaften war, ist eine Entwicklung, die ich (noch) als „List der Vernunft“ im Sinne Kants bezeichnen würde: Aus einem fragwürdigen Motiv heraus und um des „zweitbesten“ Prinzips Willen macht eine Gruppe von Menschen das Richtige und folgt dem besseren Prinzip: Aus Gründen der besseren Wettbewerbsfähigkeit wird kooperiert. Fraglich ist jedoch und wird vermutlich in den kommenden Jahren und Jahrzehnenten zu beobachten sein, was geschehen wird, wenn der gemeinsame Kooperationsraum der Menschen den Globus entspannt und es keine „einigende Klammer“ von außen mehr gibt, die jene Gemeinschaft zur Zusammenarbeit aus Konkurrenzgründen motiviert. Bereits Mitte der 90er Jahre glaubte ja Francis Fukuyama jenes „Ende der Geschichte“ im Sinne umspannender globalisierter westlicher Werteordnung sei erreicht. Ein Irrtum, wie sich herrausstellte.

So, und was bedeutet dieser ausgiebige Exkurs zum Einstieg, dieser Schweinsgalopp durch einzelne Aspekte der Zivilisationsgeschichte für die im Titel angelegte Frage? Nun, ich habe versucht darzulegen, dass Zivilisation, Gesellschaft und Gemeinschaft immer wieder den Rückgriff auf Regeln brauchen, die menschliches Zusammenleben und Zusammenwirken festlegen. Ohne Regeln gäbe es keine Grundlage für eine Kooperation untereinander sondern nur das Recht des Stärkeren. Ohne Regeln erleben wir das, was in einer fatalen Fehlinterpretation des Darwinschen „Survival of the Fittest“ oft als „Sozialdarwinismus“ bezeichnet wird. Ein Blick auf das „Funktionieren“ von komplett ungeregelten Märkten mag dies verdeutlichen. Die Starken und Reichen werden immer stärker und reicher, während die, und sei es nur temporär, im Wettbewerb Schwächeren aus diesem verdrängt und eliminiert werden.

Eine Welt ohne Regeln bleibt bei den naturgegeben Unterschieden zwischen menschlichen Individuen stehen, verfestigt und verstärkt diese – die normative grundlegende Gleichheit der Menschen untereinander, die für ein gewinnbringendes Kooperieren und Zusammenleben gebraucht wird, sie wird nicht herbeigeführt. Dies ist, auch das habe ich versucht anzureißen, mehr als ein ethisch-moralisches „Wohlfühlproblem“: In einer komplexen und volatilen Welt kann niemand sagen, welche Eigenschaften und Veranlagungen es sind, die entscheidend zum Überleben der Spezies in Zukunft beitragen werden. Und in einer hocharbeitsteiligen, spezialisierten Erwerbsgesellschaft verfügt jedes Individuum über Fähigkeiten, die es –neben einer religiös-humanistisch begründeten Wertschätzung des Einzelnen- für die Gesamtheit wertvoll und nützlich machen.

Eine Welt ohne Regeln macht aber nicht nur das Kooperationsverhalten der Menschen untereinander zunichte; sie beeinträchtigt auch den Umgang der Spezies Mensch mit seiner Umwelt und seinen Mitgeschöpfen. „Macht die Welt Euch Untertan“ – dies galt noch als Credo für menschliche Gemeinschaften, als der Erfolg unserer Spezies in der Evolutionsgeschichte nicht total und unmäßig war. Doch inzwischen ist er das. Wir kontrollieren die Natur total. Die Masse dessen, was der Mensch geschaffen hat auf unserem Planeten übersteigt die Masse dessen, was die Natur geschaffen hat bei weitem. Die Wissenschaft spricht mittlerweile vom „Anthropozän“. Die Einsicht, dass wir lernen müssen, mit unserem Sieg über die Natur verantwortungsvoll umzugehen, damit wir die Früchte dieses Erfolges nicht gefährden, damit wir nicht den Ast absägen, auf dem wir sitzen, diese Einsicht dämmert zwar bereits vielen Menschen, aber noch nicht allen. Die richtigen Maßnahmen zu treffen, um diesen Planeten als unseren Lebensraum auch für nachfolgende Generationen zu erhalten – dies liegt nicht in unseren Genen und wurde uns in der Zivilisationsgeschichte nicht anerzogen.

Nicht nur im Umgang mit anderen Menschen, auch im Umgang mit der Natur gab es für den Menschen die Handlungsoptionen Kooperation und Konkurrenz. Während jedoch im Umgang mit anderen Menschen der Modus Kooperation sich als erfolgversprechendere Variante weitestgehend durchsetzen konnte, hatte die Natur nie dieses Glück. Hier hat sich fatalerweise in den menschlichen Genen und Instinkten die Konkurrenz als vorherrschende Handlungsweise etabliert. Mit fatalen Folgen, zunächst für die Natur selbst, aber, und davon bin ich überzeugt, absehbar auch für uns als Menschen. Hier gegenzusteuern, gegen unsere eigenen Urinstinkte, auch dafür braucht es Regeln. Regeln, die das ungezügelte „freie Spiel der Kräfte“, die unseren Antrieb nach mehr, nach Wachstum, nach Konkurrenz in Bahnen lenken, die eine dauerhafte und nachhaltige Existenz unserer Art sichern.     

Zu guter Letzt: Regeln ohne die Macht, diese auch umzusetzen, nennt man Ohnmacht. So wie umgekehrt die pure, ungebändigte Macht ohne einhegende Regeln Tyrannei genannt wird. Und damit sind wir wieder mitten im Politischen, mitten im Ausbalancieren und Ausverhandeln von Kooperation und Konkurrenz. Die Zivilisationsgeschichte hat im Laufe der Zeit sehr viele Regeln hervorgebracht, die zunächst recht einfach nur das alltägliche Zusammenleben strukturiert und eine Zusammenarbeit in Gesellschaften ermöglicht haben. Mit dem Anwachsen der Gesellschaften, mit ihrer zunehmenden Komplexität und Größe, wuchsen auch die Regeln und die Mittel zu deren Umsetzung und wurden notwendigerweise umfassender und komplexer. Von Hammurabi über die „Leviten“ und die 10 Gebote, von der „Nikomachischen Ethik“ eines Aristoteles, über den „Sachsenspiegel“ des Mittelalters, von den ersten Überlegungen zu den Menschenrechten eines Pico della Mirandola hin zu deren Erklärung in der Französischen Revolution, hin zur UN Charta und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, hin zu dem, wie ich finde grandios-wunderbaren Grundgesetz meines Heimatlandes mit seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung – immer und immer wieder wurden die grundlegenden Modalitäten des Zusammenlebens erfolgreich ausbalanciert. Immer wieder haben Menschen erkannt, dass es bestehender Regeln und deren zeitgemäßer Fortschreibung bedurfte, um ein friedvolles und gewinnendes Leben für die Mitglieder einer Gemeinschaft zu ermöglichen.

Tatsächlich – wider all unserer natürlichen Instinkte haben wir Menschen es inzwischen sogar damit begonnen, wenn auch zögerlich und zu langsam, unser Verhältnis zur Natur einer Prüfung zu unterziehen und uns selbst im Umgang mit ihr Regeln aufzuerlegen: FCKW wurden erfolgreich verboten, es gibt etliche Abkommen zum Klima- und zum Artenschutz. Diesen fehlt es noch an Umsetzungs- und effektiven Sanktionsregimen, jedoch: In einer komplett regellosen Welt wären diese Abkommen nicht einmal zu Stande gekommen. In einer anarchischen Welt würde auch hier gelten: Das Stärkere überlebt, das Schwächere muss weichen und wird zuvor nicht einmal gehört.

Nach all dem Geschriebenen bleibt für mich unter dem Strich:
Eine anarchische, ungeregelte Welt:

  • Wäre nicht sozial gerecht, sondern sozialdarwinistisch.
  • Würde nicht Kooperation, sondern Konkurrenz und Verteilungskämpfe unter den Menschen befördern.
  • Wäre nicht ökologisch, sondern würde weiterhin die Belange der Natur vernachlässigen zu Gunsten eines kurzfristigen Profitdenkens des Menschen.
  • Böte Minderheiten, sozial Ausgegrenzten, Randgruppen und von der Mehrheit als „nicht nützlich“ wahrgenommenen Menschen keinen Schutz vor Unterdrückung und Verfolgung.

Daraus folgt also, dass eine Politik, die sich dafür stark macht, die Interessen und Belange der Schwachen, der Ausgegrenzten, von Minderheiten, derer, die sich nicht wehren können, von Umwelt, Natur, Mitgeschöpfen und auch von unseren Kindern und Enkeln sowie der Generationen, die hoffentlich auf uns noch folgen werden, dass eine Politik, die dies alles mit „einpreisen“ will, die sich auch für all diese Gruppen einsetzen will, muss eine Politik sein, die auf klaren Regeln und deren Umsetzung besteht. Dies muss eine Politik sein, die das anarchische Chaos, in dem nur das Recht des Stärkeren zum Zuge kommt, ablehnt.

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